So zuverlässig wie die jährliche winterliche Grippewelle durchs Land zieht, lesen jeweils zum Jahresanfang unzählige Schlauberger frohen Mutes im Kaffeesatz und verkünden lautstark, welche Trends im neuen Kalenderjahr die Kommunikation mit Film und Video auf den Kopf stellen werden.
Weil Dummheiten durch Multiplikation offenbar für Wahlsiege reichen, aber Dummheiten durch Vervielfältigung nie an Intelligenz gewinnen, verzichtet Filmpuls anders als in den Vorjahren auf eigene Prognosen.
Statt Trends für das visuelle Storytelling listen wir hier auf, was wir uns für das noch junge Jahr in heimlichen Stunden von einer guten Fee wünschen würden.
1Mutter aller Trends: Storytelling
Das Wort Storytelling befindet bei den Kreativ-Trends sich schon seit Längerem auf dem besten Weg dazu, sich als schwammiger Auswuchs eines Trends auf den Mond zu schießen. Schuld daran sind nicht nur absurde Definitionen wie „Storytelling bedeutet, Fakten als eine logische Abfolge von Ereignissen zu kommunizieren“ (Eigenwerbung PR-Agentur [1]), sondern die auch die Nachlässigkeit im Umgang mit Fachbegriffen in der Kreativwirtschaft.
Visuelles Storytelling kann nur erfolgreich sein, wenn Begrifflichkeiten von allen an einem Projekt Beteiligten gleich verstanden werden. Storytelling ist und bleibt ein machtvolles Instrument. Es wäre allerdings mehr als nur wünschenswert, wenn die „Kommunikation vor der Kommunikation“ (nach Rudolf Hackl) endlich mit der gleichen Präzision abläuft, wie sie von der Kreation, Produktion und Distribution gefordert wird. Das ist unser erster Wunsch.
2Content für Mobile Devices
Als Zweites wünschen wir uns den Bilderstreit zurück, der jahrelang zwischen Produzenten, Kameraleuten und Editoren für engagierte und oftmals auch hitzige Diskussionen sorgte. Im Kern ging es um die nicht nur theoretische Frage, ob Kinobilder wegen des Trends zum Home-Entertainment im Mäusekino (Fernsehen) überhaupt eine vergleichbare Wirkung entfalten können. Als Argumentationshilfe musste jeweils eine als Totale gedrehte Einstellung herhalten, oftmals eine Plansequenz. Gleichzeitig wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass Rhythmus und Tempo des Schnitts je nach Größe der Projektionsfläche eine komplett unterschiedliche Wirkung entfalten.
Die Kinoleinwand (Bild-Diagonale) war in den Neunzigerjahren um 85 % [2] größer als ein handelsüblicher TV-Bildschirm. Nur: Der durchschnittliche Unterschied zwischen einem zeitgemäßen Flachbildschirm-TV und der Anzeige eines Smartphones beträgt … – 90 % 3!
Die Aktualität der Frage nach der Bildwirkung in Abhängigkeit von der Plattform, auf der Video Content konsumiert wird, besteht also nicht nur in Prozent gemessen auch noch heute und im Zeitalter von Google, Twitter und Facebook.
Hat unsere Gesellschaft wegen YouTube und den Trends zu dieser von Katzenvideos dominierten universellen Müllhalde das Sehen verlernt? Oder wie beim Datenschutz nur resigniert?
In einer Zeit, in der Video noch immer rasant an Wichtigkeit gewinnt. Und das Erkennen von Trends für die Marketing-Teams und Kommunikationsabteilungen in Unternehmen immer (überlebens-)wichtiger wird, wünschen wir uns wieder heftige Diskussionen über Wirkung und Bildmacht. Video ist nicht nur ein Spiegel der Kompetenz der Macher, sondern auch ein Spiegel der Gesellschaft, von der sie konsumiert werden.
3Abfilmen, verfilmen oder inszenieren?
Man kann existierende Lebenssachverhalte abfilmen, Emotionen und Informationen transportieren, indem man Aussagewünsche gezielt visualisiert (verfilmt). Oder man inszeniert, statt dokumentarisch wiederzugeben, mit dem Mittel der Fiktion gezielt auf Gefühle und Erkenntnisse.
Alle drei erwähnten Formen der Filmproduktion haben als Stil und Trends ihre Berechtigung. Kameratypen gibt es für jede Art davon. Aber nur Ignoranten glauben, mit Turnschuhen unfallfrei auf das Matterhorn gelangen zu können. Turnschuhe, Bergschuhe und Steigeisen sind kein Trend, sondern darum erfunden worden und noch immer auf dem Markt, weil sie unterschiedliche Dinge leisten können.
Wir wünschen uns eine stark wachsende Gruppe an Menschen, vom Jungproduzenten bis zum Auftraggeber, die zwischen diesen drei Arten der Filmproduktion endlich unterscheiden können. Weil Inkompetenz-Erkennungskompetenz für die erfolgreiche Kommunikation mit Bewegtbild unabdingbar geworden ist.
4Unterscheide dich oder stirb!
Ob Imagefilm, Produktfilm, Hollywood oder ob intellektuelles Autorenkino: Wir wünschen uns als Trends im neuen Jahr für alle Spielarten der Bewegtbild-Kommunikation wieder mehr Erlebnisqualität. Wir wollen sehen, was wir noch nie gesehen haben. Wir möchten eintauchen in Geschichten und Welten erleben, die uns bisher verschlossen geblieben sind.
Möglich ist dies nur mit Künstlern und Talenten, Autoren, Regisseuren, Komponisten und Set Designern, die keine Erfolgsrezepte kopieren, sondern Neues kreieren.
Originäres schaffen statt klonen muss die Devise heißen. Oder, knallhart formuliert von den Autoren Trout und Rivkin im Titel ihres gleichnamigen Bestsellers[4]: Unterscheide Dich oder stirb!
5Knacknuss Trend 360 Grad Videos
Die Idee, mit Filmen ein tatsächlich immersives Erlebnis für den Zuschauer zu kreieren, ist keine neue Entwicklung. Disney und Iwerks entwickelten in den Sechzigerjahren riesige analoge 360-Grad-Kameras [5]. Damit produzierten sie, lange vor den heutigen Trends, spektakuläre 360 Filme für Themenparks. Was über Jahrzehnte in professioneller Qualität nur mit 650 Kilogramm schweren Ungetümen möglich war (die mit jeweils neun Kameras im 35MM-Format bestückt wurden), das leistet 10 Jahre nach der Erfindung des iPhone mit VR 360 Video nun auch das Smartphone.
Kurzum: Die Produktionsbedingungen für 360 Filme sind in einer nahezu unvorstellbaren Dimension einfacher geworden. Aber statt von den seit Jahrzehnten tradierten Erfahrungswerten für Storytelling mit Circlevision (so nannte Disney seine millionenschweren 360-Filme) zu profitieren, erfinden Verlagshäuser und Feld-Wald-und-Wiesen-Produzenten das Format 360 Videos als Teil eines Trends aus Unwissen neu.
Nicht zum Vorteil des 360 Filmes. Besser macht es die 360 Animation. Sie setzt heute schon Maßstäbe im Umgang mit dem 3D Raum und Storytelling.
Es wäre wunderbar, wenn dieses Jahr für die Bewegtbild-Industrie als das Jahr gelten könnte, in dem die Erfahrungsdemenz der Film- und Kommunikationsbranche mit Bezug auf 360-Videos endlich überwunden wird. Vielleicht hilft dabei auch der Wettbewerb im Zusammenhang mit der neuen YI HALO 360-Grad-Kamera von Google.
6Geburtswehen: Virtuelle Realität
Regisseur James Cameron (Titanic, Avatar) wies 2015 darauf hin, dass virtuelle Realität als Trend so bahnbrechend neu gar nicht ist.
Auch Ed Catmull, Mitgründer der Hollywood-Animationsschmiede Pixar, sieht VR / AR und die dazugehörigen Trends eher nüchtern. Wie der Co-Entwickler der führenden Animations-Software Renderman an einem Auftritt in Zürich sagte, sei er skeptisch und glaube nicht daran, dass VR-Brillen für virtuelle (oder erweiterte) Realität die lineare Erzählweise des Kinos maßgeblich verändern würden (Quelle: World Wide Web Forum 2017).
There seems to be a lot of excitement around something that, to me, is a yawn, frankly. If you want to move through a virtual reality it’s called a video game, it’s been around forever.
James Cameron
Wenn die VR ihre technischen Hausaufgaben erledigt hat, noch ist es nicht ganz so weit, öffnen sich im Kontakt mit Immersion, mit virtueller Realität tatsächlich neue Welten, auch wahrnehmungspsychologisch [6].
Für dieses Jahr wünschen wir uns weniger blinde, unreflektierte Begeisterungsstürme für alles, was das Kürzel VR im Produktnamen trägt. Und dafür weitere, smarte Hybridformen wie Pokémon Go im Bereich der Augmented Reality.
Wer über Bewegtbild, über die interaktive Zukunft schreibt, sollte zuerst einmal danach streben, seinen Donald Duck und damit Comics zu verstehen. sequenzielles Storytelling ist die Basis für den richtigen Umgang mit Bewegtbild.
7Deepfakes ändern die Welt
Deepfakes sind für Video und Film das, was die Fake-News für Presse und Print sind. Diese neue Technologie zur automatisierten Bildmanipulation hat das Potenzial, die Glaubwürdigkeit von Bewegtbild auf bisher unbekannte Weise zu untergraben, wenn nicht sogar für immer zu zerstören.
Darum wünschen wir uns schon heute eine Diskussion darüber, was Deepfake Videos können und dürfen. Nur ist ein kontrollierter Umgang mit dieser nicht ungefährlichen Innovation möglich. Die Faszination für das bewegte Bild gipfelt hier in einer Gefahr, über die weder der Konsument noch Filmemacher und Videoproducer hinwegsehen dürfen.
8Kaugummi für die Augen?
Eine andere Form des Trends:
Sie suchen im Internet nach Informationen und stoßen auf ein Video, das Ihnen die Antwort verspricht. Einen Klick später geht es los: das Ende der Werbung abwarten. Dann ein starkes Versprechen im Intro des Videos. Anschließend wird Ihnen minutenlang visuelle Informationsverschmutzung um den Kopf gehauen. Kennen Sie das?
Damit es nach Service aussieht, ist alles immer nett kaschiert, mit Untertiteln, Grafiken und einem austauschbaren Klangteppich. Dieser erinnert an das Frühstücksbuffet in einem amerikanischen Businesshotel, in das Sie nur noch unter Gewaltandrohung zurückkehren würden. Ein Inhaltsverzeichnis? Träumen Sie weiter! Die Möglichkeit zur Navigation: Fehlanzeige! Die wichtigsten Learnings als Zusammenfassung: eine Illusion! Dafür gibt es ohne Anmelden ungefragt einen Newsletter im Abo, aber keine Kontaktdaten. Service fühlt sich anders an.
Weil Sie keine Chance haben, den Inhalt vor dem Ansehen auf Relevanz zu beurteilen, und schon mehr Lebenszeit in das Video investiert haben, als Sie eigentlich wollten, schauen Sie weiter. Das freut den Inhaber der Internetseite: Video-Kaugummi für Augen treibt die durchschnittliche Sitzungsdauer auf Websites markant nach oben, wovon wiederum das Suchmaschinen-Ranking optimiert. Garniert mit Werbeanzeigen und abgerundet mit einigen Tricks im Quelltext zur Minimierung der Absprungrate, ergibt sich so ein hübsches Ertrags-Modell für den Seitenbetreiber.
Schon im Vorjahr im Artikel Storytelling haben wir die Trends zu solchen Videos zum Teufel gewünscht. Daran ändert sich auch diesmal nichts. Audiovisuelle Mogelpackungen vergraulen dem User die Lust auf Bewegtbild. Das darf nicht sein. Das Potenzial an Möglichkeiten ist noch lange nicht ausgeschöpft! Weder qualitativ noch quantitativ.
Eine aktuelle Einschätzung aus Sicht der Auftragsproduktionen findest du hier: 10 Filmproduktionen teilen ihre Erfahrungen und Prognosen für 2019
Trends: Verweise und Quellen
[1] URL auf Anfrage bei info@filmpuls.info erhältlich
[2] T3N
[3] Wikipedia
[4] Differentiate or die, von Jack Trout und Steve Rivkin, Verlag John Wiley & Sons, 2001
[5] siehe dazu am Ende der Filmpuls-Artikel-Serie zu 360 Grad Video
[6] Mehr dazu: Exklusive Insights – Standortbestimmung
Fehler gefunden? Jetzt melden
Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 10.01.2017
Teile jetzt deine Erfahrungen