Eine der größten Veränderungen, die die Produktion von Film und Video je gesehen hat, steht vor der Türe. Sie heißt „Virtual Production“ und wirft so ziemlich alle Produktionswege über den Haufen, die seit der Erfindung des Filmes Gültigkeit besaßen. Die Art, wie Filme gemacht werden, ändert sich damit fundamental.
Um es gleich vorauszuschicken: Dieser Artikel dreht sich nicht um Dinge, die eines Tages möglicherweise dein Leben als Filmemacher verändern. Er zeigt ausschließlich auf, was in der Filmproduktion in vielen Ländern bereits geschieht. Die Technologie, die aktuell unter dem Namen „Virtual Production“, „Virtual Cinematography“ oder „StageCraft“ oder „The Volume“ in Hollywood bekannt ist, bewährt sich schon heute bei Spielfilmen und Werbespots.
Was bedeutet Virtual Production?
Virtual Production ist ein Sammelbegriff, der wörtlich aus der englischen Sprache übersetzt nichts anderes heißt als virtuelle Produktion. Diese aber hat es in sich!
Anders als bisher verschmelzen bei dieser Art, Filme zu produzieren, die Realität mit digital erzeugten Kulissen. Dies in Echtzeit und mit Einbezug sämtlicher Elemente, die für das Filmemachen entscheidend sind: Bildkomposition, Licht, Farbe, Perspektiven, Dekor, Kamera und Schauspieler werden bei der virtuellen Produktion in Realtime direkt bei der Inszenierung kombiniert.
Die Filmindustrie springt in diesen Monaten gerade vom Filmemachen 1.0. direkt zum Filmemachen 5.0.
Joe RussoFilmemacher
Die Virtual Production ist in technischer Hinsicht eine Symbiose aus Film und Game. Denn erst die leistungsstarken Games Engines ermöglichen heute zusammen mit modernster LED Technologie virtuelle Filmproduktionen mit einem Rendering in Echtzeit, also ohne jegliche Verzögerung. Und nein, Virtual Cinematography ist weniger teuer, als du denkst.
Warum in „The Mandalorian“ digital-interaktive Sets statt Greenscreen verwendet werden, zeigt dieses Video:
Making of
The Mandalorian
Der Space-Western „Star Wars: The Mandalorian“ von Disney+ erzählt die Geschichte eines Kopfgeldjägers, der sich als Einzelkämpfer nach dem Fall des galaktischen Imperiums durch die äußeren Bereiche der Galaxis kämpft. Die Handlung der Serie spielt fünf Jahre nach dem Spielfilm „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“.
Für die technische Umsetzung der Dreharbeiten zeichnet die von George Lucas gegründete Firma Industrial Light & Magic (ILM) verantwortlich. Für die Dreharbeiten wurden keine Greenscreens eingesetzt. Auch CGI kam für die visuellen Effekte nicht wie üblich zum Einsatz. Stattdessen wurden die Drehorte mit der von Epic Games entwickelten Unreal Engine als virtueller Raum gebaut. Damit konnten die Darsteller – wie in einem Videogame – sich im Studio direkt und abgestimmt auf die Blickwinkel vor wandgroßen LCD-Bildschirmen bewegen und in Echtzeit direkt in die virtuellen Filmsets eingefügt werden. Die beteiligten Darsteller zeigten sich in Interviews erfreut, dank der neuen Technologie nicht mehr länger vor grünen Hintergrund, sondern in einer, wenn auch virtuell erstellten, für sie real erscheinenden Kulisse agieren zu können.
Gemäß ILM konnte mit der neuen Technologie der Aufwand reduziert und die Kosten für die Drehlogistik dank dem Studiodreh deutlich reduziert werden.
© Video: Movies Insider / YouTube
Für einen Filmemacher bedeutet die neue Produktionsweise, dass er mit seinem Kameramann und Schauspielern nur noch in einem Studio steht. Die Kamera ist mit einer Game Engine gekoppelt und bewegt sich in einem sogenannten volumetrischen Raum. Der Begriff Volumetrie bezeichnet ein technisches Messverfahren, mit dem der Raum vermessen wird. Damit wird es möglich, dass der Computer sowohl die Kamera wie alle Elemente vor der Kameralinse trackt und in einer 3D-Umgebung platziert. Der Hintergrund, und nicht nur er, wird dabei mit LED-Bildschirmen bespielt, vor denen die Darsteller agieren.
Die Bildschirme mit LED-Technologie sind dabei haushohe Panels und zugleich in der Lage, den Hintergrund pixelgenau als in Echtzeit gerendertes Hintergrundbild darzustellen.
Virtual Production wirft so ziemlich alles über den Haufen, was bisher den Filmprozess mitbestimmte.
Welche Vorteile besitzt die virtuelle Filmproduktion?
Maximale kreative Freiheit:
Der Regisseur bekommt eine nie gekannte Freiheit bei der Inszenierung. Jeder Filmemacher erhält die Möglichkeit, seine Visionen in nie gekannter Weise umzusetzen.
Externe Störfaktoren entfallen:
Die kreative Arbeit der Regie wird bei einer Virtual Production nicht mehr durch störende externe Faktoren – vielleicht abgesehen von Produzenten – eingeschränkt. Die Regie besitzt die absolute Kontrolle über die gesamte Welt, in der die Filmhandlung angesiedelt ist.
Digitale Effekte werden Allgemeingut:
Aufwendige digitale Effekte in der Postproduktion bleiben bei der Virtual Cinematography nicht mehr nur den Stars der Szene vorbehalten, weil diese neu direkt beim Dreh in Echtzeit erfolgen und kein Kostenfaktor mehr sind. Damit werden sie auch für Nachwuchstalente und unbekannte Filmemacher zugänglich.
Herstellungskosten der Filme sinken:
Mit der virtuellen Produktion sinken die Kosten für die Herstellung eines Filmes. Der logistische und finanzielle Aufwand für die beiden Phasen Vorproduktion und Nachproduktion entfällt nahezu
Dreharbeiten nur noch im Studio:
Die Dreharbeiten im Studio sind ebenfalls kostengünstiger als an real existierenden Drehorten. Lange Anfahrtswege und Reisen an exotische Drehorte entfallen, es besteht kein Wetterrisiko mehr etc.
Postproduktion entfällt:
Es gibt keine nachträgliche Bildbearbeitung mehr. Für eine Postproduktion besteht bei dieser Produktionsart keine Erforderlichkeit mehr, weil die gesamte visuelle Erscheinung beim Dreh bestimmt und schon in der Endqualität aufgezeichnet wird.
Vorproduktion wird neu definiert:
Die Vorproduktion (Preproduction) folgt bei der Virtual Production komplett neuen Anforderungen. Ein Location-Scouting entfällt, weil keine realen Drehorte mehr erforderlich sind.
Virtuelles Location Scouting:
Anstelle der Vorbesichtigung realer Drehorte und dem bisherigen, klassischen Location Scouting erfolgt ein digitales Scouting: die Filmsets lassen sich im Studio schon als Skizzen als 3D Raum betreten und erkunden.
Vorvisualisierung:
Nach dem digitalen Scouting werden die einzelnen Szenen prävisualisiert. Damit kann das Filmteam sämtliche kreativen Entscheide festlegen und – wichtiger – in aller Ruhe stressfrei testen.
Reduktion der Risiken:
Produzenten profitieren von einer Reduktion der Risiken, weil durch die einem Dreh vorhergehende Testphase viele Entscheidungen fallen, die kostspielige Verzögerungen oder Wiederholungen bei den Dreharbeiten mit teuren Stars verhindern.
Beispiel: virtuelles Set, Dekor und Licht wird in Echtzeit berechnet, wird ein Möbel weggeklickt, adaptiert sich die Beleuchtung. Zugleich lässt sich die Lichtstimmung digital erzeugen und damit jederzeit ändern | © YouTube, UE4 Architecture
Kinofilme, die virtuell gedreht wurden
Für die breite Öffentlichkeit erstmals sichtbar wurde die neue Weise der Filmproduktion mit dem Spielfilm „The Mandalorian“ (2020) von Disney. Dass dieser sowohl künstlerisch wie finanziell ein großer Erfolg war, hat der Virtual Cinematography zusätzlichen Schub verliehen.
Welche Blockbuster wurden bisher mit virtuellen Sets gedreht?
- »Haus des Geldes – Berlin« (2024)
- „The Batman“ (2022)
- „The Mandalorian“ (2020)
- „Ripple Effect“ (2020)
- „Lion King“ (2019)
- „First Man“ (2018)
- „Thor: Ragnarok“ (2017)
- „Guardians of the Galaxy, Vol. 2“ (2017)
- „Rogue One – A Star Wars Story“ (2016)
- „The Martian“ (2015)
- „Oblivion“ (2013)
- „Gravity“ (2013)
Was sind die Treiber der virtuellen Filmproduktion?
LED Panels:
In technischer Hinsicht haben LED-Panels einen entscheidenden Anteil am wachsenden Erfolg virtueller Produktionen. Einer der Anbieter, der in diesem Bereich aktuell federführend ist, ist das Unternehmen ROE Visual mit seinen HD-LED-Studio-Screens namens Black Pearl oder die Crystal LED-Videowände von SONY.
Software / Engivirtual-production/nes:
Absolut ausschlaggebend für Virtual Cinematography sind Softwarelösungen wie Unreal (Links siehe letztes Kapitel) oder Unity. Erst sie machen die Verbindung aller digitalen Elemente mit der Realität in Echtzeit möglich. Bis vor kurzer Zeit war dazu teure GPU-Technologie erforderlich. Durch die jüngste technische Entwicklung reichen dazu heute auch Engines in Game-Laptops und im oberen Spektrum handelsüblicher Computer. Damit ist die Einstiegshürde in diese futuristische Art der Filmproduktion nochmals entscheidend gesunken.
Filmschulen:
Führende Filmschulen beschäftigen sich überall auf der Welt bereits mit der unumkehrbaren Entwicklung zur Virtual Production und Virtual Cinematography. So etwa die Züricher Hochschule der Künste ZHdK, die zur Ausbildung für Filmstudierende bereits ein virtuelles Filmstudio unter dem Namen Immersive Arts Space betreibt.
Am Set mit dem neuesten In-Camera VFX Feature Set in UE 4.27 | © YouTube, Unreal Engine
Links zum Thema virtuelle Produktion
Hier findest du weiterführende Informationen zum Thema Virtual Production:
- The Virtual Production Field Guide, Noah Kadner
- Live-Panel über virtuelle Produktion – Canadian Society of Cinematographers
- Zwischen Kamera, VFX und Beleuchtung für die virtuelle Produktion – Visual Effects Society
- Projekt-Spotlight: UE4’s Next-Gen Virtual Production Tools – Die Unreal Engine
- Virtuelle Produktion – Aus Sicht des Kameramanns, Quelle: FX Guide
- Virtual Production – Podcast von Noah Kadner, Grund- bis Aufbauwissen
- Virtuelle Produktion – SIGGRAPH Spotlight Podcast mittleres Wissen.
- Ressourcen für virtuelle Produktion – Visual Effects Society
- Unreal Build: virtuelle Produktionskonferenz 2020 – Die Unreal Engine
- Unreal Online-Lernen Die Unreal Engine
- Virtual Production Facebook-Gruppe – 13.000 Mitglieder weltweit
- Unreal Engine: Virtual Production Facebook-Gruppe – 40.000 Mitglieder weltweit
Quelle Zitat: Joe Russo ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent. Zusammen mit seinem Bruder war er als Russo Brothers unter anderem als Regisseur verantwortlich für den Spielfilm „Avengers Endgame“ (2019).
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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 01.09.2021
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