Das Leben verläuft nicht immer nach Plan. Genauso, wie den Dreharbeiten zu einem Film nicht immer eines Storyboards als Drehverlage zugrunde liegt. Situatives Drehen ist nicht nur beim Dokumentarfilm immer wieder der einzige Weg, mit der Filmkamera die gewünschten Aufnahmen zu bekommen.
Wer behauptet, situatives Drehen sei immer nur ein Vorgehen nach dem Zufallsprinzip, verkennt die vielfältigen Möglichkeiten, welche die Aufnahmetechnik der situativen Kameraführung für die Filmgestaltung mit sich bringt.
Was ist mit situativem Drehen gemeint?
Unter situativem Drehen im engeren Sinn versteht man die Fähigkeit des Kameramannes, mit einer Kamera spontan Ereignisse im Umfeld so festzuhalten, dass sie bezüglich Wahl des Blickwinkels und Bildausschnitt (Einstellungsgrößen) höchsten cineastischen und dramaturgischen Maßstäben genügen.
Mit zum situativen Drehen gehört, mit nur einer Kamera während eines laufenden Interviews oder Gesprächs die Beteiligten ohne Unterbruch der Aufnahme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu drehen.
Beispiel: In einem Dokumentarfilm wird eine Person vom Filmautor interviewt. Anwesend ist ein Kameramann, der je nach Frage und Antwort jeweils zwischen Fragesteller und Interviewer hin und her schwenkt. Wo genau die Kamera wann jeweils gerade hinblickt, muss die Kamera situativ entscheiden. Dies, weil die Aktionen und Reaktionen von Interviewer und Interviewpartner sich erst in der konkreten Situation zeigen.
- Die Kameraperson muss mit dem Auge das laufende Bild kontrollieren; und
- zugleich schon den nächsten Bildausschnitt und die dazugehörige Kamerabewegung überlegen; und
- parallel dazu und möglichst antizipierend konstant die Reaktionen der beiden Gesprächspartner vorwegnehmen, damit das Blickfeld der Kamera nichts Wichtiges verpasst; und
- dabei sicherstellen, dass jeder Kameraschwenk oder die Bewegung vorwärts / rückwärts nicht mechanisch und unnatürlich wirkt, und dass immer die richtige Person mit der richtigen Reaktion oder Aktion zu sehen ist.
Welche Arten von situativen Dreharbeiten gibt es?
Der situative Dreh kann man auch als Gegenteil des systematischen Abarbeitens einer im Voraus geplanten Shotlist definieren. Daraus ergeben sich folgende Kategorien der situativen Kameraführung:
Die wichtigsten 6 Arten des situativen Drehs:
Echte und unechte situative Bildgestaltung:
bei der echten Bildgestaltung aus der Situation heraus ist diese Arbeitsweise als Stilmittel geplant. Bei der unechten, aus der Situation heraus erfolgenden Kameraarbeit, folgen die Bewegungen der Kamera nicht der Intuition der Person hinter der Kamera, sondern soll nur diesen Eindruck erwecken: Die Bewegungen sind ist eingeübt, geplant, inszeniert. Dies mit dem Zweck, inhaltlich kontrollierte und streng komponierte, möglicherweise sogar zur Manipulation des Zuschauers arrangierte, Filmaufnahmen besonders echt und spontan wirken zu lassen.
Inhaltlich oder formal getriebener, situativer Dreh:
abhängig vom Zweck können spontan gewählte Bildausschnitte aus einer inhaltlichen Motivation heraus („das ist besonders wichtig“) oder aus formal-ästhetischen Gründen („das sieht unglaublich toll aus“) entstehen. Beide Arten sind legitim.
Vorausgesehener oder unvorhergesehener situativer Filmdreh:
bei einer Dokumentation erfolgt die Wahl des Kameramannes oftmals auch hinsichtlich seiner Erfahrung mit dem situativen Führen der Kamera. Es wird davon ausgegangen, dass im Laufe der Dreharbeiten ohnehin situativ gedreht werden muss. Team und Filmautor sind darauf vorbereitet, dass man sich nicht vorbereiten kann. Auch Plansequenzen können als antizipierter, echter Dreh geplant werden. Entsteht das Erfordernis der situativen Kameraführung ungeplant und ad hoc auf dem Set, weil sich Zeitplan oder die Situation vor der Kamera plötzlich grundsätzlich verändert haben, muss die Aufnahmeleitung gemeinsam mit der Regie und Kameraperson einen Entscheid treffen: will man die Vorgaben des Drehtags mit Improvisation, sprich: situativer Kameraführung, retten? Oder ob das kleinere Risiko darin besteht, bei Überraschungen dieser Art die Filmaufnahmen abzubrechen.
Achtung Ton!
Wie immer, wenn sich die Kamera bewegt, muss man auch an die Audio-Spur denken. Sind in einer 2er-Situation bei einer situativ geführten Kamera die Personen vor der Linse mit einem Mikrofon verkabelt, ist das Schwenken kein Problem.
Ähnliches gilt, wenn auf dem Set eine Ton-Angel eingesetzt wird. Diesmal muss nur darauf geachtet werden, dass das Mikrofon bei einer unerwarteten Kamerabewegung nicht zufällig in den Bildausschnitt gelangt.
Problematisch für die Tonqualität wird es beim situativen Dreh dann, wenn die Aufnahme des Tons über das Kameramikrofon läuft. Wer in dieser Konstellation etwa die Reaktion einer still zuhörenden Person im Bild einfangen will, während das Gegenüber weiter spricht, verliert durch das Schwenken der Kamera den Fokus auf die Tonquelle. Damit wird die situativ gedrehte Einstellung entweder unbrauchbar oder erfordert später in der Bild- und Tonbearbeitung einen unnötig hohen Aufwand zur Rettung der Tonspur. Immer vorausgesetzt, die Pegelunterschiede lassen sich nachträglich überhaupt korrigieren!
Die Alternative zum situativen Dreh
Situatives Drehen ist eine Kunst, die nur wenige, erfahrende Kameraleute meisterhaft beherrschen. Wie viele Kameras am Ende auf einem Filmset – besonders bei Interviews – eingesetzt werden, ist auch von dieser Fähigkeit abhängig.
Besteht der Plan, zwei Personen, Fragesteller und Antwortgeber, wechselnd im Bild zu sehen, ist der gleichzeitige Dreh aus zwei Kameraperspektiven mit zwei Kameras oftmals das kleinere Risiko. Dabei kann eine Kamera mit einem Stativ statisch positioniert sein (Blickfeld: Halbtotale, beide Personen sind im Bild). Kameraleute, die gleichzeitig zwei Personen mit einer einzelnen Kamera attraktiv drehen können.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 24.05.2022
Teile jetzt deine Erfahrungen