Video Content oder wenn der Hammer auf den Apfel haut | Interview Kristian Widmer

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Das Komma auf den Punkt gebracht: Anleitung für gute Videos | © 3D-Bild: Pavel Sokolov

Was zuerst war, Huhn oder Ei, gleicht der Frage, ob der Fluss dem Flussbett seine Form aufzwingt oder umgekehrt. Bei Video Content verhält es sich ähnlich: Was ist verantwortlich für den Siegeszug von Bewegtbild, YouTube und Social Video? Die Distributionskanäle? Oder die inhaltliche Qualität der Videos?

Kristian Widmer, Head of Strategy bei Burson Marsteller, sagt: «Auftraggeber wissen nahezu alles über Distributionskanäle, aber kaum etwas darüber, wie man erfolgreichen Video Content für Marketing konzipiert. Videokanäle können mit Zahlen und Fakten erfasst und argumentiert werden. Kreation und Herstellung von erfolgreichen Videos bewegen sich umgekehrt im Schnittfeld von Talent und Emotionen. Erfolgreicher Content scheint deshalb nur beschränkt der Logik zugänglich. Viele Entscheider fokussieren darum fälschlicherweise auf die Distribution und sind nicht im Bilde darüber, was Video Content erfolgreich macht.»

Die Thesen von Widmer für besseren Video Content wurde kürzlich vom renommierten Magazin Marketing Review St.Gallen der Universität Sankt Gallen HSG als Whitepaper publiziert (Gratis-Download hier). Wir wollten mehr dazu wissen. Und haben beim Autor nachgefragt.

Interview mit Kristian Widmer

Filmpuls:Dein Artikel trägt die Kopfzeile «Video Content – Hauptdarsteller in der Unschärfe-Zone». Warum dieser Titel?

© Foto: dasbild.ch
Kristian Widmer

Kristian Widmer ist Head of Strategy bei Burson Marsteller, die zum weltgrößten Kommunikationsdienstleister WPP gehört. Als Initiant eines MBO wurde Widmer 2005 Mitaktionär der mit einem Oscar prämierten Condor Films AG, die er bis 2016 auch als CEO führte.

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Kristian Widmer:Die Kreation und Herstellung von Videos im Bereich Auftragsfilm ist für Auftragsproduktionen ein wachsendes Problem, das noch kaum jemand auf dem Radar hat. Warum? Erstens, weil der Preisdruck auf die Agenturen und Videoproduzenten immer größer wird. Sie müssen ihre Kosten senken, um im Markt zu bleiben. Auch weil Google, YouTube und Facebook ein immer größeres Stück vom Kuchen abschneiden. Auftraggeber von Videos können nicht zaubern. Gehen die Kosten auf der einen Seite für die Distribution hoch, wird der Aufwand, zweitens, bei gleichbleibendem Etat an einer anderen Stelle kompensiert, nämlich beim Videoproducer. Mit dem verhandelt es sich einfacher als mit einem Weltkonzern wie Google. Nur: Tiefe Budgets haben langfristig zur Folge, dass auf Seite der Kreation und Produktion immer weniger Personen arbeiten, die verstehen, was ein gutes Video ausmacht. Ich sehe immer mehr Videos im Bereich Marketing und Kommunikation, die immer weniger funktionieren! Dabei ist bei Bewegtbild, filmisch gesprochen, der Inhalt der Hauptdarsteller. Aber dieser Hauptdarsteller ist nicht mehr im Fokus. Er tummelt sich angeschlagen im Hintergrund zwischen Hilflosigkeit und Ignoranz und wird in dieser Unschärfe-Zone tragischerweise nicht einmal mehr wahrgenommen.

Filmpuls:Löst sich das Problem nicht automatisch, weil die Vertriebskanäle aus langer Sicht auf Video Content angewiesen sind, der funktioniert?

Kristian Widmer:Man kann das so sehen. Aber selbst, wenn dem so ist, wird, bis es so weit ist, weiter unnötig Geld für schlechte Videos verbraten. Wenn Du Producer bist, stehst Du dem realen Risiko gegenüber, dass die Freunde von YouTube, Facebook und Co. zwar tatsächlich eines Tages etwas für die Qualität des von ihnen transportierten Inhalts unternehmen werden. Weil sonst ihre Attraktivität und Preispolitik im Markt nicht zu halten ist – aber dann werden sie das selbst tun. Es braucht nicht viel Hirnschmalz, um darauf zu kommen, seinem Kunden das gesamte Leistungspaket aus einer Hand anzubieten. Es gibt auch schon Beispiele dafür.

Für ein Video ist nicht die Distribution, sondern, filmisch gesprochen, der Inhalt der Hauptdarsteller. Aber dieser Hauptdarsteller tummelt sich zwischen Hilflosigkeit und Ignoranz und wird in dieser Unschärfe-Zone tragischerweise nicht mehr wahrgenommen.
Kristian Widmer

Filmpuls:Als Anbieter von Videos habe ich also ohnehin schon verloren?

Kristian Widmer:Nein, aber der Markt befindet sich für Anbieter in einer Durstphase. Die muss man als Unternehmen aushalten können. Seit 1990 sind klare Zyklen erkennbar. Der physische Film wurde in den Achtzigerjahren durch Video abgelöst. Die Nachfrage nach Video ist da erstmals explodiert, profitiert haben die Anbieter (Produktionsfirmen, Anm. d. Red.). Dann kam eine zweite, digitale Welle. Sie hat die Eintrittshürden für Producer gesenkt. Die Zahl der Anbieter stieg an, der Preis für professionelle Videotechnik sank und der Konkurrenzkampf unter immer mehr Produzenten tat das seine dazu.

Der Markt befindet sich für Video-Anbieter in einer Durstphase. Die muss man aushalten können.
Kristian Widmer

Man muss sich das einmal vor Augen halten: Eine 35MM Filmkamera kostete früher, mitsamt hochwertigen Linsen, wie sie für Imagefilme oder Werbung und Marketing notwendig waren, eine siebenstellige Summe. Eine analoge Betacam ging für eine Viertelmillion über den Ladentisch. Heute produzierst Du in 4K und kannst Dir diesen Standard auch als Neuling in der Branche leisten. Aber eines muss Dir heute klar sein: Du wirst in Zukunft nicht für die Technik, sondern für Erfahrung, Wissen und Talent bezahlt. Was bedeutet das? Jeder kann Video. Kann er? Technisch betrachtet ja. Aber ein guter Film ist mehr als nur ein scharfer Film. Auftraggeber wollen Filme, die beim Zuschauer einen Unterschied bewirken. Marketing hat einen Zweck. Gefühle zu verändern oder Informationen zu vermitteln, ist anspruchsvoll.

Filmpuls:Sind höhere Video-Budgets wirklich realistisch?

Kristian Widmer:Es geht um Wirkung. Nur! Das ist der einzige Grund, für Marketing mit Video zu arbeiten und Video Content zu konsumieren. Kontakt und Wirkung sind in der Distribution in Zahlen messbar und belegbar. Hier bekommst Du Fakten, harte Werte, die Du Deinem Boss erklären kannst. Die Frage lautet also: wie kann ich feststellen, ob mein Videokonzept wirkt, bevor ich in die Distribution gehe. Das ist auch der Kern meines Artikels. Was ist und wie funktioniert Video Content. Mangelhafter Content in der Distribution kostet, bleibt aber wirkungslos. Niemand will ein totes Pferd mit Heu füttern.

Filmpuls:Nur: wie identifiziere ich guten Video Content?

Kristian Widmer:Indem man sich als Auftraggeber oder Kunde für Dein Unternehmen das dafür notwendige Kontrollwissen aufbaut. Trotz allem digitalen Brimborium sind Filme noch immer für Menschen gemacht. Und der Mensch ändert zwar sein Verhalten mit Bezug auf den Medienkonsum, bleibt aber im Kern weiterhin Mensch. Die Art, was wir als gutes Storytelling empfinden, ist in unserer Kultur verankert. Die Psychologie der Wahrnehmung hat auch eine physische Komponente. Video Content ist kein Cowboy jenseits von Gesetz und Ordnung im wilden Westen. Es gibt Regeln und Instrumente, die bei der Bewertung helfen. Der Artikel erklärt diese Regeln und leitet aus ihnen fünf konkrete Tipps als Checkliste ab. Bist Du Anbieter und Videoproducer, musst Du auf drei Fragen eine ehrliche Antwort finden: Besitzt Du das notwendige Wissen, hast Du die Erfahrung und wurdest Du mit dem Talent geboren, um guten Video Content herzustellen? Dazu benötigst Du Referenzwissen.

Wer als Werkzeug nur den Hammer kennt, sieht in jedem Problem einen Nagel.
Kristian Widmer

Wenn Du Dir dieselben Fragen stellst und ihre Hintergründe verstehst, wirst Du Video Content mit anderen Augen betrachten. Dann wirst Du als Auftraggeber sofort nach der Identifikation einer faulenden Rübe in Deinem Gemüsekorb überlegen: macht X % aus meinem Gesamtbudget für Media (Distribution) wirklich Sinn, wenn ich für Y % nur hässliche, stinkende Rüben als Content erhalte? Oder überprüfe ich das Verhältnis zwischen X und Y nochmals? Damit ich meinem Boss und meinem Gewissen versprechen kann: Video Content is King. Distribution is Queen. Als Auftragnehmer wirst Du einsehen, dass Du mehr als nur ein Werkzeug kennen musst. Wer nur den Hammer kennt, sieht in jedem Problem einen Nagel. Bekommt ein solcher Mensch den Auftrag, einen Apfel in zwei Hälften zu teilen, wird er den Hammer dazu verwenden. Schlimmer noch, er wird überzeugt sein, das absolut Richtige zu tun.

Filmpuls:YouTube und Co. kann man mit dem Erkennen von faulen Rüben und dem richtigen Werkzeug zum Teilen eines Apfels davon abhalten, eines Tages nicht nur mit eigenen Werbeagenturen, sondern auch als Content Producer aufzutreten?

Kristian Widmer:Sie werden es versuchen. Social Video bietet sich dazu an. Und sie werden wahrscheinlich verlieren und es darum möglicherweise nicht versuchen. Weil kein vernünftiger Kunde nur einen Anbieter mag. Natürlich, wenn es keine Alternativen gibt, muss ich zum Monopolisten. Wenn ich aber kompetente Lösungen auf meine Probleme im Markt finde, werde ich mir das für mich beste Angebot aussuchen. Dazu ist es notwendig, dass der Fokus im Marketing und im Auftragsfilm weg von der Technik auf die Qualität der Inhalte gelenkt wird. Darum sprechen wir. Distribution und Inhalt müssen naheliegenderweise in einer Balance stehen. Wie Huhn und Ei bedingen sie einander. Zumindest, wenn man die Evolutionstheorie nicht ablehnt.

Filmpuls:Wenn wir für dieses Interview nur einen Satz zitieren dürften, wie würde er lauten?

Kristian Widmer:Wissen ist Zukunft.

Filmpuls:Vielen Dank, Kristian, für Deine Einsichten und zur Einschätzung Deiner aktuellen Marktperspektiven für Auftragsfilme.

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Zum Artikel «Video Content – Hauptdarsteller in der Unschärfe-Zone»

Der diesem Interview zugrunde liegende Artikel kann bei Filmpuls gratis gelesen werden und ist mit freundlicher Genehmigung des Verlags zum Download verfügbar: «Hauptdarsteller in der Unschärfe-Zone»

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 27.02.2018

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