Filme schneiden (Teil 4): Wenn der Filmschnitt die Wahrheit manipuliert

Manipulation im Filmschnitt
Ein zweischneidiges Schwert: Filmschnitt und Manipulation | © Symbolbild: Pavel Sokolov

Filme schneiden kann durch Manipulation der Wahrheit in Form von Filmlügen beträchtlichen Schaden anrichten. Das gilt nicht erst seit Fake News und Deepfake Videos. Die Montage, so erkannte schon Meisterregisseur Eisenstein, ist nichts weniger als die moralische Dimension des Films.

Wer der europäischen Geschichte ab der Zeit der Weimarer Republik oder dem Machthunger von Diktatoren folgt, erkennt schnell: Das bewegte Bild ist eines der gefährlichsten aller Medien überhaupt! Kinofilme und Filmlügen gehen Hand in Hand. Denn ein Film erhält seine endgültige Form nicht bei den Dreharbeiten auf dem Filmset. Sondern erst später, nachdem eine Vielzahl von wichtigen Entscheidungen im dunklen Kämmerlein des Editors getroffen wurden.

Film schneiden bedeutet, Manipulation als Wahrheit darzustellen

Ein Film kann nicht anders als montiert zu werden. Er ist damit immer eine Manipulation der Realität. Ungeachtet der gewählten filmischen Montageform. Allein schon darum, weil dem Blickwinkel der Kamera ein subjektiver Entscheid des Regisseurs oder Kameramanns vorausgeht. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Das Arrangieren von Einstellungen und Sequenzen im Rahmen der Montage bietet etliche Möglichkeiten zur Manipulation und für Filmlügen. Dieser abschließende Artikel der Filmpuls-Serie zum Thema Filmmontage zeigt die wichtigsten Arten filmischer Manipulationen. Er erklärt die Mechanismen und zeigt Beispiele.

Die digitale Bildbearbeitung ermöglicht ungeahnte Formen zur Veränderung der Wahrheit. Dem Zuschauer erscheinen scheinbar real gedrehte Bilder als echt und damit als Tatsachen und Realität. Das gilt ganz besonders dann, wenn es sich beim Genre nicht um Spielfilme oder Werbespots handelt. Besonders die Berichterstattung am Fernsehen, aber auch Dokusoap und Reportagen besitzen einen ganz besonderen Vertrauensvorschuss beim Zuschauer.

Filmlügen: Wahrheit ist, was wir sehen

Ein schönes Beispiel für Manipulation der Wahrheit bietet der Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkim“ (1925). Der russische Propaganda-Spielfilm unter der Regie von Sergei Eisenstein zeigt die Meuterei der Besatzung eines Kriegsschiffs gegen deren zaristische Offiziere. Geschnitten hat den Film der Regisseur selbst.

1925 in Moskau im Bolschoi-Theater als Jubiläumsfilm zur Feier der Revolution des Jahres 1905 uraufgeführt, wurde das Werk aufgrund seiner Montage und trotz seiner kommunistischen Botschaft zu einem Welterfolg.

Meister der Manipulation und Filmlügen
Sergei Michailowitsch Eisenstein (1898–1948), Regisseur / Cutter

Ein Jahr später erteilte Regisseur Eisenstein einem Verleiher in Schweden vertraglich die Erlaubnis, seinen Film vor der Vorführung (Zitat): „geringfügig zu verändern, aber ohne etwas wegzulassen oder hinzuzufügen“.

Der Film beginnt im Original mit der Ausbeutung der Matrosen durch die Offiziere. Diese beantworten den Protest ihrer Mannschaft mit Todesurteilen. Erst im allerletzten Moment wendet sich das Exekutionskommando gegen die Offiziere. Die Russische Revolution beginnt.

In der für den skandinavischen Markt bestimmten Version begann der Film neu damit, dass das Exekutionskommando die Offiziere liquidiert. Dies aber ohne die Gründe dafür zu zeigen. Dafür standen die Revolutionäre nun neu am Ende des Films zitternd vor den Gewehren der zaristischen Offiziere. Diese Szene befand sich im Original unmittelbar vor der Liquidation der Offiziere durch die Mannschaft. Durch die Umstellung entstand der Eindruck, die Offiziere hätten die Kontrolle zurückgewonnen und die Revolutionäre besiegt!

Video-Ausschnitt „Panzerkreuzer Potemkim“ von Sergei Eisenstein | © YouTube

Battleship Potemkin Trailer 2011 HD Official

Die moralische Dimension der Dialektik beim Filmschnitt

Es muss Ironie des Schicksals gewesen sein, dass dieser Vorfall gerade Eisenstein erleben musste, was eine Umstellung von nur wenigen Szenen als Filmlüge bewirken kann. Denn Eisenstein gilt bis heute als Erfinder und Meister der Dialektik im Filmschnitt.  Seine Filme haben der Welt demonstriert, dass durch den Schnitt auch inhaltlich voneinander losgelöste Einstellungen zueinander in Beziehung treten können. Der Zuschauer glaubt, in der Kombination losgelöster Dinge die Wahrheit zu entdecken.

Die Montage ist die moralische Dimension des Films!
Sergei Eisenstein

Wurde etwa ein Männergesicht vor eine Großaufnahme eines Stücks Brot geschnitten, waren das Publikum überzeugt, die Person, der das Gesicht gehört, sei hungrig. Wurde aber eine lächelnde Frau zwischen die Aufnahmen desselben Männergesichts geschnitten, waren die befragten Kinobesucher fest überzeugt, der Mann zeige Freude, die Frau zu sehen.

Wenn TV-Formate lügen

Manipulation durch Umstellungen ganzer Filmsequenzen sind beim Spielfilm schneiden heute die Ausnahme.

Alltag aber ist die Umstellung der Reihenfolge chronologisch gedrehter Einstellungen, hauptsächlich in Dokusoap und Reportage am Privatfernsehen. Hier wird oftmals im Schnitt manipuliert und getrickst, bis selbst dem Teufel ein Tränchen aus seinem Augenwinkel rinnt.

Beispiel: Ein Ehepaar spricht vor der Kamera über seine Beziehung. Als der Mann beifügt, dass es bei ihm Liebe auf den ersten Blick war, wirft die Frau ihrem Gatten einen kritisch-verneinenden Blick zu. Im Schnitt wird die Aussage zum Kennenlernen des Paares vom Schnittredaktor als wenig relevant für die Quote beurteilt. Sie landet nicht in der Sendung. Der kritische Blick der Frau aber wird verwendet: Um dem Inhalt zusätzliche Spannung zu verleihen, ist die Einstellung als Zwischenschnitt an einer Stelle gelandet, an welcher der Mann nicht ohne Stolz erklärt, die Beziehung funktioniere auch im verflixten siebten Ehejahr hervorragend. Wo im Original die Frau in Wahrheit zustimmend gelächelt hat, dreht nun der asynchrone Zwischenschnitt die Aussage nun in ihr Gegenteil und signalisiert dem TV-Publikum: Zwischen diesem Paar wird es in einer der kommenden Episoden noch richtig Zoff geben!

Mickey-Mousing

Tier-, Dokumentarfilm und von Tierschützern lieben das sogenannte Mickey-Mousing. Der Begriff, der Name sagt es, wurde beim Filme schneiden von Disney geprägt.

Die Tierfilme der 50er-Jahre des globalen Unterhaltungskonzerns waren auch darum so erfolgreich, weil die Montage durch geschickte Abfolge der Einstellungen den Tieren scheinbare Emotionen im Kontext der Handlung verlieh. Die Reaktionen der tierischen Hauptdarsteller spiegelten – durch den geschickten Schnitt – menschliche Verhaltensmuster, hatten aber nichts mit der Realität zu tun. Filmhund Lassie lässt grüßen.

Der Kniff mit der Manipulation der Zeit

Ein alltägliches Beispiel für eine harmlose Manipulation der Wahrheit beim Filme schneiden ist das Einfügen unbeweglicher Objekte in einen Handlungsverlauf.

Bewegungslose Objekte verbindet der Zuschauer im Gegensatz zu lebenden Objekten nicht mit Zeitvergehen. Zeigt ein Film oder Video hintereinander zwei Einstellungen eines gehenden Menschen, folgert der Zuschauer daraus nicht unbedingt, dass zwischen den Einstellungen Zeit vergangen ist. Wird zwischen dieselben beiden Einstellungen nun eine dritte Einstellung eingefügt, die ein bewegungsloses Objekt zeigt, suggeriert diese Kombination plötzlich (anders als in der Realität) den Fortgang der Zeit.

Der Grund für dieses Phänomen ist darin zu finden, dass die sichtbare Bewegung direkt mit unserem natürlichen Zeitempfinden verknüpft ist. Bewegungslose Objekte symbolisieren umgekehrt in der Gefühlswelt des Zuschauers kein reales Vergehen der Zeit. Sie sind gewissermaßen zeitlos oder unendlich.

Die Kombination von realer Zeitempfindung mit nicht einschätzbare Zeitverlauf ruft für die nachfolgende Einstellung darum das Gefühl hervor, es sei Zeit vergangen.

Filmlügen: Manipulation der Wahrheit

Lügen im Film vermag man nur erkennen, wenn man versteht, wie sie sie beim Filmschnitt – mit Absicht oder unbewusst – entstehen können.

Wie entsteht eine Filmlüge?
  • Die Montage kann unterschiedliches Filmmaterial und unterschiedliche Szenen und Einstellungen anders als beim Drehen geplant miteinander in eine Beziehung setzen.
  • Schnitte werden mit Absicht so angelegt, dass sie nicht als solche erkennbar sind. Beispielsweise mit einem Reißschwenk.
  • Der Schnitt wird als starkes dramaturgisches Element missbraucht, das zur Manipulation falsche Kontraste schafft oder nicht existierende überraschende Momente provoziert.
  • Manipulierend kann die Montage auch durch die Kombination von Einstellungen wirken, die im Zusammenspiel eine neue Wirkung entfalten (Mickey Mousing).
  • Zeitraffer und Zeitlupe erzählen nicht die Wahrheit, sondern eine Verkürzung oder Verlängerung realer Vorgänge.
  • Das Offensichtliche ist für den Zuschauer oftmals nicht sichtbar. Ein schönes und wichtiges Beispiel dafür ist das Phänomen der sogenannten unsichtbaren Schnitte.

Hugo Ball, Mitbegründer der Dada-Bewegung und Autor, erkannt schon in den Dreißigerjahren: „Das Bild ist die Mutter des Wortes“. Der Vater des bewegten Bildes, das ist der Filmschnitt. Darum besitzen Filmemacher und Videoproducer beim Filme schneiden eine ganz besondere Verantwortung. Professionelles Wissen zieht auch Verantwortung mit sich.

Fazit

Das musst du wissen

  • Eine Umkehrung der Abfolge von Filmsequenzen kann, genauso wie das Weglassen von Szenen, die Aussage eines Films grundlegend verändern.
  • Grundsätzlich ist jede Art von Bewegtbild eine Manipulation. Die Abgrenzung zur Lüge kann nur über moralische Maßstäbe erfolgen.
  • Die Deepfake-Technologie bietet nochmals neue, ungeahnte Wege zur Manipulation von Filmbildern.
  • Filmlügen erkennen kann nur, wenn sich mit der Filmmontage und deren Möglichkeiten auskennt.

Die Inhalte der Serie „Filme schneiden.“

Bücher und Lehrbücher über Filme schneiden, Filmlügen und die Manipulation der Wahrheit mittels Filmschnitt findet sich in der unten stehenden Literaturliste und im Artikel von Filmpuls über Gute Filmbücher.

Literatur zum Thema

  • Die Kunst des Filmschnitts, Michael Ondaatje, 1996
  • Handbuch der Filmmontage: Praxis und Prinzipien des Filmschnitts, herausgegeben von Hans Beller, TR-Verlagsunion
  • Ein Lidschlag, ein Schnitt. Die Kunst der Filmmontage, von Walter Scott Murch, Alexander Verlag Berlin
  • Geschichte der narrativen Filmmontage: Theoretische Grundlagen und ausgewählte Beispiele, von Michaela S. Ast, Tectum Verlag

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 16.08.2016

Pavel Sokolov 49 Artikel
Pavel studiert Film Editing. Er mag François Truffaut, Terrence Malick, Dr Pepper, seinen Thermaltake View 71 TG, Musik von Seeed und alle Dinge, die mit der Farbe Rot zusammenhängen, aber keinem Lebewesen Schmerzen bereiten.

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