Der 360 Animations-Film bewegt sich in Hollywood ab sofort auf Augenhöhe mit dem Oscar

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360-Kurzfilme eröffnen neue Dimensionen für VR | Beispielbild: Pavel Sokolov

Es war das erste Mal, seit die Goldmännchen vergeben werden: Mit »Pearl« von Patrick Osborne ist ein 360 Film für den Oscar nominiert. Dieser Artikel präsentiert eine Analyse über das künstlerisch ebenso wie technisch bahnbrechende Werk.

Mit »Pearl« ist erstmals in der Geschichte des Films, ein Virtual Reality 360 Film für einen Oscar (Academy-Award) nominiert. Der Film, bei dem es aus technischer Sicht nach einer ersten Analyse gar nicht mehr so klar ist, ob man es wirklich mit einem Film zu tun hat. Oder nur mit einem Filmerlebnis, wurde für die Virtual Reality-Reihe von Google Spotlight Story produziert.

Analyse des Oscar-nominierten 360 Films

»Pearl« ist die einfühlsam erzählte Geschichte von Sara, einem Mädchen, das mit ihrem Vater, einem Musiker, in einem Auto aufwächst. Während der Vater versucht, seine Rolle als Elternteil und Musiker unter einen Hut zu bringen, wird seine Tochter erwachsen. Sie entdeckt ihre eigene musikalische Berufung und lernt, was im Leben Glück bedeutet.

Ob der Filmtitel (deutsch: Perle) für den Kosenamen der Hauptfigur Sara steht, eine Referenz an die gleichnamige Musikgruppe ist oder für schicksalhafte Momente steht, bleibt offen.

Der in Form einer Rückblende erzählte Kurzfilm bewegt sich, was das Genre betrifft, gekonnt auf dem Grat zwischen Road Movie und Music Video. Regisseur Patrick Osborne sagte im Vorfeld des Oscar: „Meine Absicht war es, einen Roadtrip mit einem Musical zu verbinden.“ (Quelle: techcrunch.com).

»Pearl«

360 Google Spotlight Stories: Pearl

Das Talent von Osborne zeigt sich in der Leichtigkeit und Eleganz, mit welcher der Regisseur seine Geschichte als 360 Film sequenziell umgesetzt hat. Wesentlich sind aus Sicht von FILMPULS dabei folgende Elemente:

Gekonnte Zuschauerführung

Es gibt bei 360 Videos zwei vorherrschende, sich teilweise widersprechende, große Dogma, die fast schon Glaubenssache sind.

Die eine Lehre vertritt die Meinung, dass im Format 360 eine Führung des Zuschauers nicht möglich ist. Als Konsequenz daraus kann ein Storytelling nur innerhalb einer Szene oder Situation erfolgen, die der Zuschauer selbst erkunden muss. Die Arbeit mit klassischen Kameraeinstellungen ist nur begrenzt möglich.

Storyboard von Patrick Osborne

Storyboard für PEARL (c) Google/Patrick Osborne
Storyboard für PEARL © Google/Patrick Osborne

 

Die gegenteilige Ansicht bejaht die Möglichkeit, die Blickrichtung des Zuschauers zu steuern.

Als Mittel dazu dienen großräumige Bewegungen oder, wo technisch möglich, die gezielte Platzierung von Toneffekten im 360-Raum.

Die Analyse: Dieser 360 Animationsfilm schafft es, beide Theorien unter einen Hut zu bringen und die Widersprüche aufzulösen. Der Film balanciert gekonnt zwischen klassischem Storytelling und einer 360-Grad Komposition.

Der Zugriff auf das Mittel der Animation löst zugleich das Problem real gedrehter Filme dieser Art. Realdreh mit 360 begrenzt die Kameraarbeit – viele Mittel des „normalen Films“ wie Perspektivenwechsel, Brennweite oder Kameraschwenks und Kamerafahrten sind beschränkt einsetzbar.

Osborne steuert die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht nur durch die klassischen Kniffs und Tricks des Formats, sondern, das ist neu und ungewöhnlich, zusätzlich auch durch Musik- und Rhythmuswechsel.

Geniale Montage

Normalerweise mögen sich das 360 Format und die Montage ganz und gar nicht. Durch das Wegfallen der Einstellungsgrößen ist jeder Schnitt bei 360 Videos so was wie ein Tritt in den Hintern des Zuschauers. Die Ausnahme davon, welche die Regel bestätigt, ist der Wechsel von einer Szene zur nächsten.

Ein 360 Film wird darum in der Regel in Kapiteln (Szenen, die zugleich eine einzige Einstellung sind) erzählt.

Die Analyse: Osborne hat dieses Problem auf ebenso bestechende, einfache Art gelöst. Nämlich durch die Ansiedlung der Story in einem Auto. Der Innenraum des Wagens bildet für die Erzählperspektive und für die 360-Kamera einen Rahmen. Dank dieser visuellen Orientierungshilfe erscheinen Umschnitt weniger als Schnitte denn als organischer Teil der Geschichte.

Die Montage dient damit und wohl zum ersten Mal in der Geschichte des Formats, ihrem vornehmsten Ziel: Sie rückt in den Hintergrund und dient der Handlung.

Immersion in jeder Hinsicht

Man kann es sich einfach machen und behaupten, das Eintauchen des Zuschauers in die Welt eines 360-Films sei systembedingt.

Die Analyse: Osborne verlässt sich nicht allein darauf. Zwar inszeniert er mit überaus liebevollen und immer wieder überraschenden Details die Welt um den Wagen herum. Aber es gelingt seinem Film, auch inhaltlich für den Zuschauer eine ganze Reihe magischer Momente zu schaffen.

Ob Eltern, Teenager, Kind oder nur Beobachter, jede Zuschauergruppen findet vielfache Anknüpfungspunkte an die eigenen Erfahrungswerte. Diese „doppelte Immersion“ macht VR mit diesem Film zu einer echten, wahren cineastischen Erfahrung.

Form Follows Function

Im ersten Moment fühlt sich «Pearl» für den Betrachter an wie ein schon leicht in die Jahre gekommenes Videogame. Das hat seinen technischen (Hinter-)Grund, mehr dazu später weiter unten in diesem Artikel.

Die Umsetzung fern von Hochglanz und Angeberei dient aber auch der Geschichte und zeigt, was einen erfolgreichen Film ausmacht: eine Geschichte mit Herz, erzählt mit Liebe und Leidenschaft und nah am Publikum.

Ton-Ebene

Das Erlebnis des Zuschauers wird kongenial von der 3D-Audioproduktion mitgetragen. Auch auf der Ton-Ebene zeigt der Film, was künstlerisch heute mit moderner Technologie im 360-Raum auf der Tonspur geleistet werden kann.

Einstiegspunkt

Jeder Film hat einen Anfang und ein Ende. Ein 360-Video besitzt zusätzlich noch einen Einstiegspunkt. Das ist derjenige Blickwinkel, mit dem der Zuschauer vom Video empfangen wird.

Der Einstiegspunkt wird für die erste Filmsekunde vorprogrammiert. Er ist der einzige vorgegebene Blickwinkel. Nachher wählt der Zuschauer selbst.

Die Analyse: dieser virtuelle Animationsfilm macht auch hier alles richtig. Begleitet und neugierig gemacht durch das Sounddesign, kann der wissende Zuschauer kaum anders, als die Umgebung parallel zur sich aufbauenden Handlung zu erkunden.

Wer erstmals der 360-Technik begegnet, tut nichts und schaut einfach zu – und findet sich flugs mitten in der Geschichte.

Patrick Osborne zum Oscar und seinem 360 Film

Patrick Osborne, Regisseur des 360-Kurzfilms, ist kein Unbekannter in Hollywood. Schon 2015 stand er bei den Academy-Awards für seinen von Disney produzierten, animierten Kurzfilm „Feast“ im Rampenlicht. Damals durfte er, damals gemeinsam mit seiner Produzentin Kristina Reed, seinen ersten Oscar entgegennehmen.

Anfangs Jahr wurde Osborne, der auch an Animationsfilmen wie „Big Hero 6“ und „Paperman“ mitwirkte, erneut, und damit zum zweiten Mal, in derselben Kategorie für den Oscar nominiert.

Das Making-of erlaubt einen exklusiven (Ein-)Blick hinter die Kulissen, zusammen einer Analyse und mit Hintergrundinformationen in Form von Erklärungen des Regisseurs.

Google Spotlight Stories: Behind The Scenes Pearl

Anders als sonst ein 360 Video wurde der Oscar-Kandidat »Pearl« nicht auf einem Rechner erstellt und dann als VR 360 Video gespeichert. Die an ein Game erinnernde Gestaltung des Films hat einen triftigen Grund: Der Film wird auf der Original-Plattform in einer tatsächlichen 3D-Umgebung in Echtzeit wie ein Game gerendert!

360 Film oder Game?

Google will mit 360 Animation auf das Potenzial von Storytelling im 3D-Raum aufmerksam machen. Der Konzern beabsichtigt mit seinen Kurzfilmen nicht mehr und nicht weniger, als eine Brücke zwischen Technik und Kreativität schlagen.

»Pearl«zeigt als 360-Film also nicht ohne Grund, was bei kluger Kombination von Storytelling, Know-how und Talent mit dem 360-Format möglich ist. Damit verbinden sich 360 Filme und Game – und geben damit Hollywood-Regisseur James Cameron (Oscar für Avatar, Titanic) recht, der zur sich überschlagenden Begeisterung über virtuelle Realität lapidar meinte: „Das gibt es alles schon seit Jahren. Es heißt Game“.

Möglich wurde das Rendering durch die Spezialisten von ATAP. Die vier Buchstaben stehen für Advanced Technology and Projects und eine Tochterfirma von Google, die es geschafft hat, für den 360-Animationsfilm eine Game Engine mit weniger als 1 MB zu entwickeln.

360 Film mit und ohne VR-Brille

So wie alle bisherigen Kurzfilme der VR Virtual Reality-Reihe von Google, steht »Pearl« auf YouTube im Videokanal Google Spotlight Stories unentgeltlich zur Verfügung. Der fünfeinhalb minütige Film lässt sich im Browser jedes Computers oder mit der eigenen Smartphone-App von Google Spotlight Stories problemlos aus jedem beliebigen Winkel und auch ohne VR-Brille betrachten.

Zusätzlich besteht für HTC Vive eine erweiterte Filmversion. Hier kann der Zuschauer nebst dem 360°-Blick aus dem Auto heraus sogar seinen Kopf aus dem Dachfenster stecken und sich auch aus dieser Perspektive die Umgebung ansehen.

Wer lieber eine VR-Brille bevorzugt, drückt im Video auf das Google Cardboard Symbol und kann so den 360 Film in der von den Machern gedachten Form in virtueller Realität genießen: als echtes immersives Filmerlebnis, das zeigt, wohin der Weg für virtuelle Kurzfilme in Zukunft führen kann.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 11.05.2017

Volker Reimann 22 Artikel
Mag. Volker Reimann ist TrendScout für virtuelle Realität, Games und interaktives Bewegtbild. Er ist überzeugt davon, dass bald schon über gezielte Nervenstimulation realitätsnahe Projektionen direkt in das menschliche Hirn möglich sind.

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