Alle wollen 360 Videos. Doch Wollen und können, ist in keinerlei Hinsicht vergleichbar. Was ist möglich? Was nicht? Die Filmemacher sollen sich zuerst mit dieser Thematik auseinandersetzen, bevor sie einem Ideal nacheifern, dem sie nicht gerecht werden können.
Ohne kluge Köpfe, kreative Geistesblitze und Innovationen droht dem vor zwei Jahren als ultimativer Trend für die Zukunft gefeierten 360-Format bald schon dasselbe Schicksal wie dem lächerlichen Wirbel um 3D-Fernseher vor zehn Jahren!
Das musst du wissen
- 360 Videos sind eine Medienform für sich. Sie bewegen sich zwischen Film und Theater.
- Der tiefe Preis für die für 360-Filme erforderliche Kameratechnik und deren digitale Verarbeitung führt bisher nicht dazu, dass neue Talente die virtuelle Realität vorantreiben. Stattdessen dominieren Amateure.
- Was mit dem 360-Format möglich ist, zeigen heute in erster Linie Animationsfilme wie der Kurzfilm „Pearl“, der erste, jemals für einen Oscar nominierte VR-Film.
Alle 7 Jahre ein Film
Seit 1960 wurde etwa alle sieben Jahre auf der Welt ein 360-Film gedreht. Die durchschnittliche Filmlänge betrug 10 Minuten. Einen 360 Film in dieser Länge unter 6 Mio. USD zu produzieren? Unvorstellbar. Bis vor zehn Jahren wog eine professionelle 360er-Film-Kamera über 650 kg. Weltweit gab es nur 2 (!) davon. Diejenige im Besitz von Disney wurde nur für 360-Produktionen eigener Themenparks eingesetzt. Für Außenstehende war sie nicht zugänglich. Die zweite 360 Kamera, vom genialen Don Iwerks konstruiert, konnte gemeinsam mit einem Spezialisten-Team für einen hohen fünfstelligen Betrag pro Woche ab Platz in Los Angeles angemietet werden.
Und jetzt – knapp 20 Jahre später – ist es endlich möglich geworden, digitale 360 Videos mühelos zu produzieren. Kein Wunder war die Aufregung groß. Mit 360 Videos sollte die Art und Weise, wie die moderne Welt bewegte Bilder konsumiert, revolutioniert werden. Noch nie war es in der Geschichte des Films so einfach, 360-Filme zu drehen und mit 360-Videos ein Millionenpublikum zu erreichen.
Trotzdem sind 360 Videos in ihren Kinderschuhen stecken geblieben.
Was läuft schief?
360 Videos sind eine Kunst für sich
Die größte Sünde der Macher von 360-Videos besteht darin, die bisherigen filmischen Disziplinen (Imagefilm, Produktfilm, CEO-Video, Werbefilm etc.) imitieren zu wollen. Das ist unsinnig. 360 Videos sind nicht nur wegen der Immersion eine komplett eigenständige Form des Films. Sie gehorchen komplett anderen Regeln. Diese sind weit komplexer als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wie es der Lateiner sagen würde: Die Spielregeln für ein 360 Video sind in jeder Hinsicht sui generis (zu Deutsch: einzigartig in ihrem Charakter).
Die Zuschauerführung, der Rhythmus und die Erzählperspektive sind beim 360°-Film ein Universum und nur die Oberfläche von dem, was an Herausforderung auf den Macher wartet. So gesehen sind 360 Videos nichts für Anfänger, sondern eine Disziplin für Meister. Der relativ tiefe Preis für den Erwerb einer Kamera und Infrastruktur ändert daran nichts. Den Produzenten von 360-Videos würde es guttun, nicht nur im Kreis nach Außen, sondern mitunter sinngemäß nach Innen auf sich selbst zu sehen, so wie es in der 360-Familie das Format Bullet Time tut.
Statt Talent entscheidet die Budgethöhe
Leider ist der Markt für 360 Videos heute nicht durch Talent angetrieben. Sondern durch die Optimierung der Kosten – das tiefere Budget gewinnt. Das ruiniert nicht nur die Möchtegern-Profis hinter ihren pixelstarken 360-Kameras, sondern auch die Qualität und die Zukunft dieser Art Filme. Wenn das Medium 360-Grad-Film scheitert, dann nicht wegen der Technik, sondern wegen der Naivität oder Ignoranz der Macher. Wer zu Hause einen Rechner mit Windows oder sonst einen Computer mit Zugang zum Internet stehen hat und weiß, wie man ein Video bei Google im Format 360 auf YouTube hochladen kann, ist nur darum noch lange kein talentierter Filmemacher.
360 Videos sind ideal, um den Zuschauer eigenständig Situationen erkunden zu lassen. Die Lust zu entdecken, kann kein anderes Genre so geschickt bedienen. 360 ist das perfekte Format für „Situationsfilme“. Darin ist 360 unschlagbar. Als schlechte Kopie anderer Filmgattungen graben sich 360 Videos das eigene Grab. Unnötigerweise.
Geschichten nur, wenn das Budget dazu reicht!
Eine Handlung in 360° zu erzählen gleicht dem Versuch, sieben Teller mit zwei Händen in die Luft zu halten. Das ist, wie Jongleure in Zirkus und Varieté beweisen, durchaus möglich. Es kann sogar den Anschein von Mühelosigkeit erwecken. Dahinter steckt jedoch hartes Training und einen Menschen, der sich seit Jahren dieser Aufgabe widmet. So sieht es auch bei der Produktion eines 360 Videos aus.
Um die Herausforderungen des 360-Formats in Zukunft erfolgreich für 360 Videos zu meistern, braucht es Wissen, Erfahrung und Talent. Und das kostet. Für eine auf 360-Videos spezialisierte Firma ist das ein nahezu unlösbares Dilemma. Der Kunde wünscht sich eine Handlung. Das Ego und der Geschäftssinn des Anbieters ebenso. Und zuletzt macht Übung den Meister.
Herausforderungen bei VR-Videos in 360-Grad
Bei VR-Videos gilt es, sich als Szenograf / Regisseur folgenden Herausforderungen erfolgreich zu stellen:
- 360 Videos haben limitiert bespielbare Zonen
- Wegfallen der klassischen Montage und damit der Möglichkeit zur inhaltlichen Verdichtung
- Schwenk oder Zoom sind bei 360 Videos unmöglich
- eingeschränkter Umgang mit Auswahl der Einstellungsgrößen (Großaufnahmen und Detailaufnahmen sind im 360-Format kaum zu realisieren)
- Blick des Zuschauers ist schwer zu lenken (Zuschauer A blickt auf 40 Grad, Zuschauer B im selben Augenblick auf 220 Grad. Wo im Bild wird der Schauspieler inszeniert? Erleben heißt hinsehen und erkennen.)
- Kaum Raum für Improvisation. Eine 360-Inszenierung lässt sich nur mit Stellproben und im Vorab dazu mit einem Cardboard oder mit dem entsprechenden Programm digital am Bildschirm vorausplanen.
- es bestehen für 360-Videos nur sehr beschränkte Möglichkeiten der Lichtsetzung (Scheinwerfer im Bild). Hilfe bietet im besten Fall eine nachträgliche digitale Retusche, damit keine Fremdkörper im Bild stören.
- Dekor und Requisiten können nicht nur für einen Teil des Bildes eingerichtet werden
- weltweit sind nur wenige Autoren verfügbar, die im 360-Format denken und schreiben können
- kein 360-Ton. Anders als das Bild ist der Ton auf YouTube und weiteren großen Plattformen, die sich zur Distribution von 360 eignen, meist nur in Stereo verfügbar (anders in Themenparks, wo sich die Blickrichtung des Zuschauers dank 360-Audio auch auditiv lenken lässt).
Welcher Spezialist hat schon die Größe und kann es sich heute leisten, seinem Auftraggeber gegen seine eigenen geschäftlichen Interessen von einem 360-Film abzuraten, weil das Budget für das Erzählen einer Geschichte mit 360-Grad nicht reicht? Dabei könnte 360 mit Fug und Recht als Königsdisziplin für gutes Storytelling mit Bewegtbild gelten. Doch entweder wird an der Entwicklung des Drehbuchs gespart oder an der 360° Umsetzung. 360 Videos, die eine Geschichte erzählen wollen, es aber nicht können, setzen eine Abwärtsspirale in Gang.
360 Videos: Technik macht schlechte Filme schärfer, aber nicht besser
Es ist erstaunlich, wie viele Anbieter von 360-Filmen sich damit positionieren, in 8K oder sogar in noch höherer Auflösung 360-Filme drehen zu können. Gleichzeitig ist es erschreckend, wie viele dieser Produzenten dann nicht in der Lage sind, nur schon Aufnahmen in 4K zu einem 360-Film zu verarbeiten. Bereits der Set-up eines funktionierenden Arbeitsablaufs zur Bildbearbeitung in 4K ist technisch komplex und leider immer noch außerordentlich kostenintensiv. Das sind an sich keine News. Aber genau dieser Arbeitsablauf entscheidet über die technische Endqualität und Zukunft des 360 Videos mit.
Es wäre interessant zu wissen, wie viele der Videos, die seit knapp vier Wochen mit Auflösungen von bis zu 8K (also dem doppelten Ultra-HD) neu auch auf die Video-Plattform Vimeo online hochgeladen werden können, tatsächlich in dieser Qualität postproduziert wurden. Mehr zur gleichen Thematik in Filmpuls: Upscaling und Downscaling: warum sich richtig hinsehen lohnt.
Wer als Auftraggeber ein Video in 4K oder sogar 8K einkauft, aber am Ende nicht bekommt, was er verlangte, kann sich immerhin damit trösten, dass Technik im Film immer Mittel zum Zweck ist. Ein hochauflösendes Videoformat garantiert nicht automatisch einen wirkungsstarken Film. Das müssen sich 360 Videos und seine Macher sich noch stärker hinter die Ohren schreiben.
Umgekehrt ist aber auch richtig: Die 3D-Audioproduktion ist technikintensiv. Hier macht die richtige Technologie den Unterschied.
Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann
Als die Firma Caran d’Ache aus Genf 1952 den Neocolor, einen neuartigen Malstift auf der Basis von Wachsölbasis erfand, behauptete niemand, dass in Zukunft fortan alle Bilder nur noch mit dieser Technik gemalt werden würden. Bei der Neuerfindung von 360 wurde umgekehrt überall prognostiziert, dass damit ein digitales Killer-Tool antreten würde, um die Welt zu erobern. Pustekuchen! 360 Videos sind, wie Neocolor in der Malerei, ganz einfach eine wunderbare, extrem interessante, zusätzliche Spielart, wie mit Film und Video kommunizieren werden kann. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Allerdings, da hinkt der Vergleich zum Malstift Neocolor, der ebenfalls im Kindergarten verwendet wird: 360 Videos haben dort nichts verloren. Sie gehören zu den schwierigsten Formen der Kommunikation mit Bewegtbild – an welcher auch etablierte Regisseure krachend scheitern können. Das vergrößert im Kreis der Wissenden und Eingeweihten die Faszination für 360-Grad Filme nur noch.
Zukunft benötigt Herkunft
360 Videos sind in jeder Hinsicht eine Klasse für sich. Er verweigert sich den Learnings aus dem „normalen“ Film, teilt mit diesem aber die wichtigste aller Prämissen. Diese lautet: Du sollst deine Zuschauer nicht langweilen! Das hat, vor 50 Jahren bereits, auch der Erfinder der virtuellen Realität, Ivan Sutherland festgestellt.
Dazu braucht es noch steile Lernkurven bei allen Involvierten. Ohne überzeugende und begeisternde Inhalte ist die brillanteste technische Lösung langfristig für die Füchse und führt der Weg nicht zurück auf die Erfolgsspur.
In der Regel werden Neue Medien zuerst verkannt und imitieren dann in einem zweiten Schritt ihre Vorgänger. Der digitale 360-Grad-Film hat diese Stufen auf dem Weg in die Zukunft übersprungen. Er startete direkt bei der Imitation anderer Formen. Und verspielt damit seine Zukunft.
Die Angst vieler Regisseure vor der Urform des frühen Films, des abgefilmten Theaters ohne klassische Kameraeinstellungen, mag mit ein Grund sein, warum viele Macher ihre 360 Videos partout nicht als Theater-ähnliche Inszenierung sehen wollen. Theater gilt für viele Filmer als wenig sexy und als altmodisch. Bei VR 360 Video verpassen sie damit eine wirklich einmalige Chance. Was möglich ist, zeigt heute schon die 360 Animation.
Hintergrund-Information
Der Verfasser dieses Artikels produzierte in den Jahren 1998–2000 mit dem Kamera-Rigg von Iwerks für Condor Films einen der letzten analogen 360-Grad Circlevision-Filme weltweit. Der während fünf Wochen in den USA, Island und den Bavaria Studios gedrehte Film konnte in den Folgejahren im eigens für ihn gebauten Kino über 12 Millionen Zuschauer verbuchen. Widmer, der in den Folgejahren noch fünf weitere globale Filme im 360-Grad-Format produzierte, unter anderem mit dem legendären Kameramann Michael Ballhaus, sagt: „Je länger man sich inhaltlich mit dem 360-Format und 360 Videos auseinandersetzt, desto komplexer wird die Materie. Ich bin in meiner Karriere keinem Filmformat begegnet, das von seinen Machern mehr Demut einfordert.“
Redaktionelle Mitarbeit: Lena Imboden
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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 02.05.2017
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