Heldenreise und Charakterentwicklung – eine Analyse der Film- und Serienprotagonisten

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Superheldin Gal Gadot in Wonder Woman (1984)  | © Filmposter (Ausschnitt): Warner Bros Pictures

Bist du jemals aus einem Kinosaal gegangen oder hast du dich nach einer Serienfolge gefragt, warum du so tief mit einem Charakter verbunden warst? Warum wir uns auf Heldenreisen mit Filmfiguren begeben, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen? Und du dich dennoch auf subtile Weise mit den Hauptfiguren identifizierst? Dann bist du genau richtig hier.

Für das Funktionieren eines Films oder einer Serie spielen die Hauptfiguren eine entscheidende Rolle. Klassische Filmhelden durchlaufen in ihrer Entwicklung oft eine sogenannte Heldenreise. Dabei gibt es verschiedene Stationen, die von der Einführung des Helden in seiner gewohnten Umgebung bis hin zur finalen Konfrontation und Erreichung der angestrebten Ziele reichen.

Auf dieser Reise gibt es Verbündete und Feinde, stellen sich Herausforderungen und wachsen die Protagonisten eines Films oder einer Serie an ihren Aufgaben: Der Held – diese Regel ist für Hollywood ein ungeschriebenes Gesetz – muss sich aus seiner Komfortzone herausbewegen und sich erst verändern, bevor er mit Erfolg oder der Lösung seiner Probleme und einem Happy End belohnt wird.

Die Entwicklung der Hauptfigur

Jeder Filmheld bewegt sich in drei Sphären: in einer physischen, einer emotionalen und einer psychologischen Dimension. Sein Verhalten und seine Entscheidungen während der Reise enthüllen seine innere Entwicklung, den sogenannten Character Arc (deutsch: Charakterbogen). So kann eine Hauptfigur zu Beginn unsicher und ängstlich sein, durch die Erlebnisse während ihrer Reise aber an Mut und Selbstbewusstsein gewinnen. Physische Faktoren wie Krankheit, Hunger oder Verletzungen können dabei wesentliche Veränderungen auslösen.

Analysieren wir Flash, den blitzschnellen Filmhelden vor dem Hintergrund seiner Heldenreise, so sticht ins Auge: Er ist stets der Schnelle, Unbezwingbare. Mit Flügelhelm und geflügelten Stiefeln sieht der Superheld seit jeher aus wie sein entfernter Cousin, der griechische Götterbote Hermes. Doch wie eine mittelmäßige Boyband, die nie ein Hauptact werden wird, hat sich Flash in der breiten Öffentlichkeit seit seiner Erfindung 1940 trotz wiederholt guter Hoffnung mit schöner Regelmäßigkeit auf der Ersatzbank der DC Ikonen Superman, Spiderman, Wonder Woman und Batman wiedergefunden.

Warum?

Superhelden aus Comics der frühen Fünfzigerjahre sind statisch konzipierte Filmfiguren. Entsprechend schwierig – und gefährlich – ist ihre Weiterentwicklung! Flash ist deswegen zwar nicht aus dem Multiversum gefallen, hat aber im neuesten Filmabenteuer zumindest im Kino die Gunst seiner Fans verspielt. Ob das Streaming, das wie ExpressVPN berichtet, ab Herbst 2023 auf dem neuen Kanal Max (der HBO und Discovery+ gehört) das Steuer nochmals herumreißen kann, wird sich weisen müssen.

James Bond 007 ist diesbezüglich noch extremer: Der Agent ihrer Majestät rettete während 46 Jahren die Welt immer wieder aufs Neue. Dies, ohne sich selbst auch nur einen Deut weiterzuentwickeln. Der Bruch, von Marc Forster’s Quantum of Solace (2008) mit Daniel Craig eingeleitet, war deshalb umso extremer.

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Quantum of Solace (2008) Official Trailer 2 - Daniel Craig, Olga Kurylenko Movie HD

James Bond 007 - Ein Quantum Trost

Video Charakterentwicklung (Beispiel 1)

Deutscher Titel
James Bond 007 - Ein Quantum Trost (2008)
Originaltitel/-sprache
Quantum of Solace / Englisch
Regie
Marc Forster
Filmdauer
1 Std 46 Min
Darsteller:in
Daniel Craig, Olga Kurylenko, Mathieu Amalric, Judi Dench, Giancarlo Giannini, Gemma Arterton
Bewertung
★★★★☆☆
63 % von 7'586 Menschen lieben diesen Film
Genre
Abenteuer, Action, Thriller, Krimi
Box Office vs Budget
Einspielergebnis: 590 Mio. USD (Produktion: 200 Mio. USD)

In „Quantum of Solace“ (2008) erlebt James Bond erstmals eine tiefgreifende innere Veränderung und Entwicklung im Vergleich zu früheren Bond-Filmen. Der Film knüpft direkt an die Ereignisse von „Casino Royale“ an, in dem Bond seine Geliebte Vesper Lynd verliert. Dieser Verlust und sein ungelöster Rachedurst prägen seinen emotionalen Zustand zu Beginn des Films. Neben der äußeren Bedrohung durch Quantum muss 007 erstmals in einer klassischen Heldenreise mit seinen eigenen inneren Dämonen kämpfen. Er reflektiert seine Handlungen und erkennt, dass seine Wut und Impulsivität nicht nur ineffektiv, sondern auch selbstzerstörerisch sind und seinem Erfolg im Weg stehen.

Ansehen
DVD oder Blu-Ray
★★★★★ = empfehlenswert | ★ = kaum sehenswert
Credits & Filmdaten von | Nutzung erfolgt eigenverantwortlich

Was Bond, Flash und das kleine Einmaleins des Storytellings vereint:

 

Zu Beginn jeder Filmstory steht die Hauptfigur in einer Serie oder einem Film oft vor einem Problem oder einer Frage, die den bisherigen Lebenswandel bedroht. Der Held wird sinnbildlich oder sprichwörtlich aus der Bahn geworfen. Verliert die Kontrolle. Muss in eine neue Welt eintreten, ein existenzielles Problem lösen und dabei Hürden überwinden, um so letztlich die Balance zum Alltag wiederherzustellen.

 

Konfrontation und Rückkehr – der Abschluss der Reise

 

Letztlich steht jeder Held in einer Filmstory oder Serienerzählung immer vor einer Herausforderung, der Konfrontation mit einem scheinbar unüberwindbaren Gegner. Diese Hürde stellt den Höhepunkt einer physischen und emotionalen Reise des Filmhelden dar: Hier trifft der Protagonist auf seine größte Angst, stellt sich seiner schwierigsten Aufgabe und kann dabei sogar den metaphorischen Tod erleben. Doch nur durch diese Prüfung kann der Held wachsen, stärker werden und siegen.

NORMALITÄT
EREIGNIS
VERWEIGERUNG
MENTOR
HÜRDE
BELOHNUNG
Grafik: Heldenreise: Stationen (vereinfacht)

 

Am Ende der Reise, nach der Überwindung der Herausforderungen und dem Sieg über die Gegner, kehrt der Held in seine gewohnte Welt zurück. Doch er ist nicht mehr der Gleiche: Er hat gelernt, sich seinen Ängsten zu stellen, hat Verbündete gefunden und Feinde besiegt. Er hat seine Stärken und Schwächen kennengelernt und ist an den Herausforderungen gewachsen. So endet die Reise des Helden, aber seine Entwicklung und sein Wachstum wirken weiterhin in den Zuschauern nach.

 

Erfolgreiche Filmhelden und Protagonisten müssen also nicht nur durch ihre Taten überzeugen. Sondern den Filmzuschauer auch durch ihre emotionale und psychologische Entwicklung fesseln. Sie nehmen uns mit auf ihre Reise, zeigen uns ihre Ängste, Hoffnungen und Träume und ermöglichen es ihren Fans, mit ihnen zu wachsen.

 

Zwei Schlagwörter, die darum in jeder Besprechung eines Drehbuchs, Treatments oder Filmkonzepts oder einer Serie auftauchen, sind Hero’s Journey und Character Arc. Beide englischen Begriffe wurden von Drehbuch-Guru Chris Vogler mitgeprägt. Sie beschreiben verschiedene Aspekte der Entwicklung der Hauptfiguren.

 

Charakterbogen: Die Wandlung des Helden

 

Neben der äußeren Reise ist die innere Reise des Helden, der Charakterbogen, von großer Bedeutung. Er zeigt die emotionalen und psychologischen Veränderungen, die der Held im Laufe der Geschichte durchläuft. Die Handlungen und Entscheidungen des Helden in den verschiedenen Stadien der Reise offenbaren diese Entwicklung.

 

Die Veränderung beginnt in der Regel mit einem Mangel oder einem inneren Konflikt, den die Hauptfigur zu Beginn der Geschichte hat. Im Laufe der Geschichte muss der Held diese Hürde überwinden und den Konflikt lösen, um seine Ziele zu erreichen. Die Veränderungen, die der Held durchmacht, sind ein wesentlicher Aspekt der Geschichte und tragen zu seiner emotionalen Tiefe und Glaubwürdigkeit bei.


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SLUMDOG MILLIONÄR | Trailer | Deutsch

Slumdog Millionär

Video Charakterentwicklung (Beispiel 2)

Deutscher Titel
Slumdog Millionär (2008)
Originaltitel/-sprache
Slumdog Millionaire / Englisch
Regie
Danny Boyle
Filmdauer
2 Std 0 Min
Darsteller:in
Dev Patel, Freida Pinto, Madhur Mittal, Anil Kapoor, Mahesh Manjrekar, Saurabh Shukla
Bewertung
★★★★★☆
77 % von 10'263 Menschen lieben diesen Film
Genre
Drama, Liebesfilm
Box Office vs Budget
Einspielergebnis: 378 Mio. USD (Produktion: 15 Mio. USD)

„Slumdog Millionär“ (2008) erzählt die wahre Geschichte von Jamal Malik. Der Protagonist ist ein Waisenjunge aus den Slums von Mumbai, der an der indischen Version von „Wer wird Millionär?“ teilnimmt. Während er versucht, die Fragen zu beantworten, werden Rückblenden aus seinem Leben gezeigt. Diese verdeutlichen seine innere Entwicklung und die Hindernisse, die er überwunden hat. Durch diese innere Reise gewinnt er nicht nur die TV-Show, sondern findet auch die Liebe seines Lebens wieder.

Ansehen
DVD oder Blu-Ray
★★★★★ = empfehlenswert | ★ = kaum sehenswert
Credits & Filmdaten von | Nutzung erfolgt eigenverantwortlich


Jede neue Erfahrung, jeder Verbündete und Feind, der sich zeigt, jeder Test, den der Held bestehen muss, dient dramaturgisch immer dazu, den Zuschauer tiefer in die Handlung und die Persönlichkeit der Hauptfigur eintauchen zu lassen.   Hero’s Journey und Charakterbogen bieten darum ein wirksames Instrumentarium zur Gestaltung von Hauptfiguren in Filmen und Serien. Sie helfen den Drehbuchautoren, die Entwicklung der Hauptfiguren zu planen und auf eine Weise darzustellen, die für das Publikum ansprechend und glaubwürdig ist. Denn dieses verlangt nach überlebensgroßen Helden, die inspirieren, mitreißen und erinnerungswürdig sind.   Sowohl „The Flash“ als auch die klassischen Filmhelden zeigen den Menschen im Kino und vor dem Fernseher, dass sie sich ständig weiterentwickeln müssen, um mit den Herausforderungen des Lebens Schritt zu halten. Gleichzeitig machen sie aber auch klar, dass wir immer wir selbst bleiben sollten.  

Hauptfiguren in Film und Serie – ein Überblick

  Film- und Serienhelden haben oft bestimmte Rollenbilder, die sie ausfüllen und erfüllen müssen. Diese werden Archetypen (Muster / Schemen) genannt. Es sind Verhaltensmerkmale und psychologische Profile, denen eine Figur während der Heldenreise einer Erzählung folgt.   [2Ko]

Grundtypen von Protagonisten im Storytelling (nicht abschließend):

  • Der Held:

    Der bekannteste Typ einer Hauptfigur ist der Held. Er ist der (oftmals) unfreiwillige Kämpfer, dessen Mission es ist, sich von der Normalität zu trennen und sich für ein Ziel aufzuopfern. Seine Belohnung für die erlittene Unbill kann persönliches Wachstum, Läuterung, die Liebe oder Gerechtigkeit sein. Die Zuschauer erleben seine Reise durch ihre Augen und identifizieren sich darum mit dem Helden.
  • Der Coach/Mentor:

    Eine wichtige Art Filmfigur ist der Mentor. Er motiviert, gibt Einblicke und bereitet den Helden direkt oder mittelbar auf die bevorstehende Heldenreise vor. Der Coach gibt dem Superhelden Hinweise oder Ratschläge, die ihm auf seiner Reise helfen. Vielfach war der Mentor früher selbst ein Held, der darum aus Erfahrung und auf Augenhöhe mit dem Helden sprechen kann.
  • Der Wächter:

    Der Wächter schützt eine besondere Welt und ihre Geheimnisse vor Missbrauch. Er stellt wichtige Tests auf, um das Engagement und die Würdigkeit des Helden zu prüfen. Prüfungen können stattfinden als Begegnung mit anderen Charakteren, oder als (symbolisch oder physisch) verschlossene Tür oder als Konfrontation mit der ungebändigten Kraft der Natur.
  • Der Verkünder:

    Der Verkünder sagt als Überbringer einer wichtigen Botschaft bedeutende Veränderungen voraus. Auch er trifft oft zu Beginn der Reise in das Leben der Hauptfigur. Üblicherweise ist seine Figur dasjenige Element, das die Geschichte in Gang setzt.
  • Der Verwandler:

    Hierbei handelt es sich um einen Typus Filmfigur, die seine Absichten und Loyalitäten zuerst verbirgt, oder dessen wahre Eigenschaften vom Filmhelden zuerst verkannt wird. Elemente und Ereignisse mit transformativer Kraft können als Katalysatoren den Helden dazu bringen, sich selbst und andere zu hinterfragen und damit auf den richtigen Weg zu finden.
  • Der Schatten:

    Der Schatten repräsentiert die dunkelsten Wünsche des Protagonisten. Er steht dabei auch für ungenutzte Ressourcen oder verkannte, abgelehnte Qualitäten. Diese Personifizierung symbolisiert gleichermaßen die größten Ängste und Phobien von Held und Zuschauer. Der Schatten repräsentiert aber auch positive Qualitäten, die der Held bewusst oder unbewusst unterdrückt oder ablehnt.
  • Der Spieler:

    Ein stets attraktiver Grundtypus einer Filmfigur im Handlungsbogen ist der Spieler. Mit scheinbar irrsinnigen Wetten auf zukünftige Ereignisse und mit seinen Prognosen bringt er die Welt durcheinander. Normalität ist nicht sein Ding. Als Person, die das Risiko liebt und zu seinem Lebensprinzip gemacht hat, nutzt er oftmals Humor und Lacher, um die Absurdität von Situation aufzuzeigen, die wider Erwarten eine Veränderung herbeiführen. Doch trotz seiner Spielernatur kann der Spieler der Verlässlichste in verwirrenden Phasen der Reise des Helden sein.
[BoGe-E]   Erst Vielfalt, Kontraste und das komplexe Zusammenspiel dieser Filmfiguren verleihen Helden in Filmen und Serien die für den Erfolg beim Publikum erforderliche Tiefe und macht sie als Identifikationsfigur vertrauenswürdig. Zugleich treiben diese Elemente die Story voran, sorgen für Spannung und machen einen Film zum Entertainment.   An „The Flash“ ist ungewöhnlich ausgeprägt erkennbar, dass auch Superhelden als Archetypen konstant angepasst werden müssen, um dem Zeitgeist zu entsprechen. Seit seiner Erfindung haben darum unterschiedliche Ausprägungen des Charakters in Cartoons, Fernsehserien und Verfilmungen diesen Superhelden geprägt.   Trotzdem ist das grundlegende Konzept der Heldenreise, auf welcher der Protagonist Hürden überwindet und sich auf dem Weg zum Erfolg den von seinen Gegnern verursachten Herausforderungen stellt, in allen Interpretationen des Charakters über die Jahrzehnte gleich geblieben.   Schuld daran sind nicht zuletzt Schurken wie Gorilla Grodd oder der Rainbow Raider. Denn wie jeder Held bezieht auch Flash seine Strahlkraft aus dem Charisma seiner Gegner.   [Linie] [klein] In diesem Artikel habe ich aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form verwendet. Tatsächlich sind mit jeder Verwendung der männlichen Form alle Geschlechter gemeint und inbegriffen. [BoGe-E]

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Gabriela Weingartner 24 Artikel
Gabriela Weingartner ist überzeugt, dass der Autor Patrick Süskind recht hat, wenn er sagt: »Man muss gescheit sein, um in der dummen Sprache des Films eine Geschichte klug erzählen zu können.«

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