Die Frage, wie man Spannung erzeugt, betrifft alle Menschen. Die einen direkt, weil sie beruflich mit Storytelling zu tun haben, oder mit Marketing und Kommunikation. Die anderen indirekt, weil der tiefe Wunsch, dass Mitmenschen einem zuhören und Aufmerksamkeit schenken, ein urmenschlicher Trieb ist. Hier findest du eine Anleitung und Einleitung mit allem, was du über Suspense wissen musst.
In diesem Artikel lernst du, wie man ganz gezielt Spannung aufbaut. Filmpuls-Expertin Gabriela Weingartner erklärt dir im Interview mit Pavel Sokolov, wie es dir auch als Einsteiger in die Materie gelingt, die Aufmerksamkeit von Menschen durch den gezielten Einsatz von Suspense zu gewinnen.
Filmpuls:Gabriela, du hast im Vorgespräch gesagt, du hättest nicht zuletzt wegen deines Wissens, wie man Spannung erzeugt, schon am Anfang deiner Karriere sehr viel Geld verdient.
Gabriela:Das ist richtig. Es ging dabei um Spielfilme. Ich habe in den Neunzigerjahren als junge Autorin tatsächlich einen vierstelligen Betrag pro Seite erhalten, die ich als Filmautorin geschrieben habe. Und schon damals haben mir dabei die Tipps und Tricks, die ich dir in diesem Gespräch offenlegen werde, wesentlich geholfen.
Filmpuls:Was für ein Versprechen!
Gabriela:In mehrfacher Hinsicht sogar! Deine erste Frage und meine Antwort sind nur darum da, weil wir in deinem Text schon zum Start demonstrieren wollten, wie man Spannung erzeugt. Tatsächlich habe ich damals auch nach heutigen Maßstäben mit ganz wenig Schreibarbeit für Hollywood unanständig viel Geld verdient. Zeitweise habe ich mich sogar dafür geschämt.
Filmpuls:Dafür, dass du gute, spannende Storys verkaufen konntest?
Gabriela:Lassen wir die Frage, was eine gute Geschichte ist, erst mal weg. Und fragen wir uns, was Spannung oder Suspense ist? Das kann man losgelöst von Film. Die einfachste Definition ist, logisch: Spannung ist das Gegenteil von … – Entspannung. Diese zwei gegensätzlichen Pole zeigen schon mal einen ganz wesentlichen Faktor, den es beim Erzeugen von Spannungsfeldern immer und ohne Ausnahme zu berücksichtigen gilt. Beide Ellipsen, Spannung und Entspannung sind Zwillinge. Der eine kann ohne den anderen nicht sein.
Spannung ist nichts anderes als ein Versprechen, dass etwas geschieht. Oder eben nicht.
Gabriela Weingartner
Man kann sogar behaupten, dass diese Gegensätze in wirklich allen Dingen, die es gibt, bereits von Natur aus angelegt sind. Ob Mensch, Metallstück oder Sonnenuntergang, alle drei bestehen, soweit ich dies als Nicht-Physikerin nachvollziehen kann, in der untersten, tiefsten Ebene aus schwingenden Atomen. Was ich damit sagen will: Der Kern aller Dinge sind Schwingungen, und damit Entspannung und Spannung. Ob in Form tanzender Atome, die einander wechselnd anziehen und abstoßen, oder in der Dramaturgie beim Storytelling.
Filmpuls:Das Prinzip vom Held, der umso heldenhafter wirkt, wenn der Bösewicht abgrundtief böse ist!
Gabriela:Die maximale Ausprägung davon ist der Gegensatz von Leben und Nichtleben, dargestellt in dem Moment, in dem dazu die Entscheidung fällt, wobei wir als Zuschauer nichts anders tun können, als tatenlos abwarten und zusehen. In dieser Hilflosigkeit und dem damit verknüpften Zwang zum Voyeurismus schlummert psychologisch eine wahnsinnig starke Faszination. Darum lassen die Autoren und Regisseure der James Bond-Reihe ihren Agenten nahezu in jedem Film in Casinos beim Roulette auf ihren Gegenpart prallen. Denn darin spiegelt sich trotz bester Manieren, Maßanzügen und adretter Begleitung bereits, um was es am Ende wirklich geht: Gewinnen oder verlieren! Faszinierend, schau mal darauf, ist dabei auch, wie voyeuristisch die Regie jeweils die Nebendarsteller am Roulette-Tisch inszeniert, wenn die Kugel rollt. Davon haben sich in der Filmgeschichte zahlreiche berühmte Verfilmungen inspirieren und prägen lassen.
Filmpuls:Gegensätze als eine dramaturgische Allzweckwaffe?
Gabriela:Nicht immer. Das gilt nur dann, wenn das Aufeinandertreffen dieser Gegensätze, die im Storytelling meist als Konflikte auftreten, zu Fragen führt. Spannung zu erzeugen, muss also bedeuten, Widersprüche zu schaffen, in denen man die Antwort auf eine Frage unbedingt erhalten will. Auf der Zeitachse kann eine solche Frage eine ganz kurze Zeitdauer umfassen. So in einem Werbefilm. Oder eine Zeitspanne, die fast identisch mit der Filmlänge ist. Denke an einen Horrorfilm, bei dem die Hauptdarstellerin unerwartet von einem Monster attackiert wird. „Was war das denn jetzt!?“, fragt sich der vom Suspense überraschte Zuschauer. Nur um bereits in der nächsten Einstellung die Antwort zu bekommen. Umgekehrt gibt Filme wie „Knives Out: Mord ist Familiensache“, bei denen der Spannungsbogen dank der Frage, wer sich am Filmende als wahrer Bösewicht entpuppt, über eine Spielfilmlänge 90 Minuten ziehen kann.
Diese wichtigen unterschiedlichen Ebenen von Spannung in der Dramaturgie musst du kennen und unterscheiden:
Spannung als übergeordnete dramaturgische Kurve:
Diese Art von Suspense bietet eine dynamische Handlungsstruktur und schafft einen Spannungsbogen, der die Neugier des Publikums weckt und aufrechterhält. Durch die kontinuierliche Steigerung der Spannung wird die Geschichte fesselnder und spannender, und der Leser oder Zuschauer wird bis zum Ende der Geschichte gehalten. Ein effektiver Spannungsbogen ist ein wichtiges Element in der Kunst des Geschichtenerzählens, um eine emotionale Verbindung zwischen der Geschichte und dem Publikum herzustellen und ein unvergessliches Lese-, Hör- oder Seherlebnis zu schaffen.
Suspense als Teilelement innerhalb der Spannungskurve:
Eine Teilspannungskurve bezieht sich auf den Spannungsbogen innerhalb eines einzelnen Handlungsstrangs oder einer Nebenhandlung innerhalb einer Geschichte oder eines Dramas. Im Gegensatz zur allgemeinen dramatischen Spannungskurve, die den Verlauf des Suspense in der gesamten Geschichte beschreibt, konzentriert sich die Teilspannungskurve auf die Entwicklung der Spannungsfelder innerhalb einer bestimmten Szene. Eine partielle Spannungskurve kann etwa die Spannung in einer Konfliktszene zwischen zwei Figuren oder die Entdeckung eines wichtigen Hinweises in einer Kriminalgeschichte beschreiben. In diesen Fällen konzentriert sich die Spannungskurve auf den Aufbau der Spannung innerhalb dieser spezifischen Handlungsstränge. Partielle Spannungskurven sind wichtige Instrumente, um den Leser oder Zuschauer in der Geschichte zu halten. Sie dienen auch dazu, die Erzählung einer Geschichte in kleinere, leichter verdauliche Einheiten zu unterteilen, wodurch die Geschichte strukturierter und leichter zu verstehen ist.
Überraschung:
Das Überraschungselement in der Dramaturgie ist immer kurz, denn es soll das Publikum aus seinen Erwartungen herausreißen. Eine Überraschung ist ein unerwartetes Ereignis oder eine unerwartete Wendung in der Handlung, die das Publikum überrumpelt und die Spannung für eine kurze Zeit erhöht. Eine Überraschung kann nicht über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten werden: Sobald sich das Publikum an den Überraschungseffekt gewöhnt hat, lässt der Suspense nach und die Geschichte wird wieder vorhersehbar. Deshalb ist es wichtig, die Überraschungselemente in der Handlung geschickt und eher spärlich zu dosieren.
Filmpuls:Was heißt das für mich, wenn ich ganz konkret Spannung erzeugen will?
Gabriela:Dann kommt einerseits der erste Faktor, den ich erwähnt habe, mit ins Spiel: Spannung erfordert Entspannung. Man kann einen großen Spannungsbogen ziehen und unter seinem Dach ganz viele Dinge erzählen. Aber das funktioniert nur, wenn es dabei auch Momente der Entspannung gibt. Damit du in diesen Phasen die Aufmerksamkeit nicht verlierst, arbeitest du andererseits mit weiteren, sich überlappenden, kleineren Spannungsbogen. Einfach formuliert: Suspense über eine Zeitdauer von mehr als zwei oder 3 Minuten erzeugt man, indem man eine übergeordnete Frage (übergeordneter Bogen, Anm.d.R.) konstruiert und zeitgleich mit weiteren Fragen arbeitet. Damit das funktioniert, dürfen diese untergeordneten Fragen in Bezug auf Tonalität nicht in Konkurrenz zum Hauptspannungsbogen treten. Als Storyteller oder Autor:in mit etwas Erfahrung schaust du natürlich darauf, dass du deine Teilfragen am Anfang und Ende organisch „verschachtelst“. Im Moment, in dem du von mir eine Antwort bekommen hast, hängst du bereits am Angelhaken meiner nächsten Frage!
Filmpuls:Das klingt verdächtig banal.
Gabriela:Nun, das sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als Bausteine, die du benötigst, um die Spannung zu halten. Damit diese Bausteine aber auf festem Grund stehen, benötigst du ein Fundament. Dazu musst du mit Fragen arbeiten, die den Charakter eines Versprechens haben. Damit meine ich, dass im Rahmen der Frage etwas geschehen muss – eine drohende oder erwünschte Veränderung, die eintreten kann oder nicht. Bei der Spannungserzeugung ist das, was ich zuvor als „Frage“ benannt habe, das Versprechen, dass etwas geschieht oder eben nicht. Es scheint also ganz klar, dass wir uns auf der Zeitachse vorwärtsbewegen und beim Suspense einem ganzen Bündel möglicher Entwicklungen ins Auge blicken. So viel ist klar. Unklar ist nur, was es dann ist. Das lässt sich auch variieren. Eintreten kann nämlich nicht nur etwas, was man sich wünscht oder vor dem man sich fürchtet, sondern auch etwas ganz anderes. Die Antwort auf die Frage hat dann den Charakter einer Überraschung. Du kannst das Erzeugen von Spannung darum auch beschreiben als den Zeitraum zwischen dem Auftreten der Frage und ihrer Beantwortung, in welcher Form auch immer.
Empathie für ungewöhnliche Menschen in gewöhnlichen Situationen entstehen zu lassen, ist schwierig.
Gabriela Weingartner
Filmpuls:Kannst du etwas dazu sagen, wie extrem die Frage formuliert werden muss, damit du maximale Spannung aufbaust?
Gabriela: Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Wie stark ein Versprechen wirkt, hängt erstens, wie du richtig erkennst, davon ab, was es verändert. Zweitens ist die Wirkung und Größe der Spannung aber auch direkt an die Frage gekoppelt, was sich für dich verändert. Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler! Es ist deine Pflicht als Autor:in oder Storyteller, eine Projektionsfläche zu schaffen. Meist funktioniert das erfolgreicher, wenn im Zentrum des Storytellings gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Situationen stehen. Empathie für ungewöhnliche Menschen in gewöhnlichen Situationen entstehen zu lassen, ist ungleich schwieriger. Spannung kann nur wachsen, wenn eine Identifikation da ist. Die Schlüsselwörter hierzu sind Mitfühlen aufgrund des Spiegelns eigener Erfahrungen. Der mögliche Gewinn oder Verlust muss für dich eine nachvollziehbare Freude oder begründete Ängste auslösen. Das alles funktioniert natürlich nur, wenn du die Frage auch emotional wirklich verstehst. Es geht beim Suspense also weniger um die objektive Größe der Frage als um emotionale Rückkoppelung und Deutlichkeit. Zumal du aus dramaturgischer Sicht ein Versprechen zur Gewährleistung von Spannung auch indirekt geben kannst.
Filmpuls:Was muss ich mir unter einem indirekten Versprechen vorstellen?
Gabriela:Indirekt sind Fragen, oder eben ein Versprechen auf etwas, das in positiver oder negativer Weise geschehen kann, wenn sie sich logischerweise aus der Handlung heraus stellen, ohne dass man sie formulieren muss. Nimm nochmals das Beispiel Roulette: Hier wird dir niemand erklären müssen, dass du gewinnen oder verlieren kannst. Und auch nicht, was für dich dabei auf dem Spiel steht. Denn du hast selbst entschieden, mit wie viel Einsatz du spielst. Aber auch im Filmbereich findest du reihenweise indirekte Versprechen. Das Genre Abenteuerfilm beinhaltet – wie jedes Filmgenre – ein indirektes Versprechen. Das gilt auch für die Mehrheit aller Filmtitel, weil das Wecken von Erwartungen zum Filmmarketing gehört. Und nicht zuletzt: Weil viele bekannte Stars für ein Rollenbild und eine Filmart stehen, stellt auch ihre Mitwirkung an einem Spielfilm bereits ein mittelbares Zuschauerversprechen und damit einen Suspense dar. Was wir Spannung nennen, ist bei genauer Betrachtung immer eine Kombination unterschiedlicher Elemente.
Die wichtigsten Mittel und Elemente, mit denen du Spannung erzeugst:
Wissensvorsprung ist ein Basiselement für Spannung:
Die Rolle des Wissensvorsprungs in der Dramaturgie bezieht sich auf das Wissen, das die Figuren innerhalb der Handlung im Vergleich zum Wissen des Publikums haben. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Das Publikum weiß mehr als die Figuren über die Handlung, die Beweggründe der Figuren oder die Hintergründe der Ereignisse als die Figuren selbst. Dies führt dazu, dass die Zuschauer Spannung erleben, weil sie auf die Reaktionen und Entscheidungen der Figuren warten, während sie bereits wissen, was als Nächstes passieren wird. Dieses Wissen kann auch genutzt werden, um den Zuschauer emotional zu manipulieren, indem insbesondere Informationen zurückgehalten werden, die die Reaktionen der Figuren verändern könnten. Oder die Figuren wissen mehr als der Zuschauer: In diesem Fall entsteht Suspense durch den Versuch des Zuschauers, auf den gleichen Wissensstand wie die Figuren zu gelangen, um herauszufinden, was als Nächstes passieren wird. Dies kann genutzt werden, um eine Erzählung zu steuern und den Zuschauer in eine bestimmte Richtung zu führen.
Konflikte:
Ein Konflikt ist das Herzstück der meisten Geschichten. Ein Konflikt entsteht, wenn zwei oder mehr Figuren unterschiedliche Ziele, Motivationen oder Überzeugungen haben. Dies kann sowohl zwischen Protagonisten und Antagonisten als auch zwischen verschiedenen Figuren auf derselben Seite der Handlung geschehen. Ein Widerspruch führt dazu, dass sich der Leser oder das Publikum fragt, wie der Konflikt gelöst werden wird.
Enthüllungen steigern die Spannung:
Eine Enthüllung ist eine neue Information oder eine Wendung in der Handlung, die dem Publikum bisher unbekannt war.
Charakterentwicklung:
Wenn sich eine Figur im Laufe der Handlung entwickelt, kann dies auch den Ausgang zukünftiger Ereignisse verändern und den Leser zwingen, seine eigenen Vorstellungen zu hinterfragen oder zu revidieren – was wiederum Spannung erzeugt.
Zeitdruck:
Wenn es eine Deadline gibt oder ein Zeitlimit (in der Fachsprache: Time lock, Anm.d.R.) gibt, um ein Ziel zu erreichen oder eine Katastrophe zu vermeiden, steigt die Spannung.
Limitierte Handlungsoptionen:
Das Gegenstück zur Zeitsperre / Deadline ist die Optionssperre (engl. = Option Lock, Anm.d.R.): Die Handlungsmöglichkeiten für eine Figur sind begrenzt und liegen unübersehbar auf dem Tisch. Meistens, dies liegt in der Natur der Sache und der Dramaturgie, ist keine der noch verfügbaren Optionen wirklich verlockend oder zielführend – was die Spannung über den Ausgang der Ereignisse erhöht.
Ambiguität (Doppeldeutigkeit):
Wenn die Handlung oder die Beweggründe der Figuren nicht klar sind, entsteht Spannung. Weil immer dann, wenn Ambiguität auftritt, die Menschen aus einem Urtrieb herausfinden wollen, was wirklich vor sich geht. Und dabei auch ihre widersprüchlichen Gefühle auflösen wollen.
Widersprüchliche Emotionen:
Wenn die Gefühle einer Figur im Widerspruch zu ihren Handlungen stehen, wird Spannung erzeugt. Denn der Leser oder Zuschauer wird versuchen, die Gründe für den Widerspruch herauszufinden. Dasselbe tritt ein, wenn der Zuschauer sich über die eigenen Emotionen im Unklaren ist, wobei dieser Zustand nie über eine längere Zeitdauer anhalten darf.
Filmpuls:Ich versuche das einmal als Zwischenschritt in einem Bild zusammenzufassen. Also: Wenn ich Spannung konstruieren will, stehe ich gewissermaßen vor einem Haufen Legosteine, aus denen ich eine ganze Reihe durch Logik ineinander verzahnte Mauern bauen muss, die aus der Vogelperspektive im Idealfall wie ein Labyrinth, umgeben von einer Außenmauer, aussehen. Wobei ein Mauerstück nur aus roten Bausteinen bei demjenigen, der sich durch diesen Irrgarten bewegt, eine andere Reaktion auslöst als eine grüne Wand?
Gabriela:Das Labyrinth scheint mir nur zur Hälfte richtig. Weil du, und das ist ein ganz großer Unterschied, dir den Weg nicht suchen, sondern nur vorstellen musst. Die dramaturgische Spannung entsteht im Kopf. Als Folge davon ergibt sich ein ganz interessantes Paradox: Spannung kann auch dadurch entstehen, dass sie dir nicht wie erwartet angeboten wird. In diesem Fall stellst du dir nämlich sofort die Frage, was der Grund dafür ist, dass dich plötzlich niemand auf das nächste Wegstück führt: Du suchst also nach der Ursache dafür, findest das vielleicht verdächtig, willst wissen, was es damit auf sich hat. Auch damit kann man arbeiten. Du siehst, die Erwartung bewohnt ein Haus mit vielen Türen.
Filmpuls:Du sagst damit, wer die Türen kennt, besitzt die Schlüssel zum Erfolg?
Gabriela: Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch wenn das Handwerk des Storytellings Kunst und Talent weit weniger benötigt als Talent und Kunst das Handwerk: am Ende spielen so viele Faktoren ineinander, dass auch ein ausgebuffter Profi in diesem komplexen Spiel immer ein Quäntchen Glück benötigt, um beim Jonglieren mit diesen komplexen psychologischen Fragen alle Bälle in der Luft halten zu können. Besonders wenn es darum geht, Spannung über mehr als einige Minuten aufrechtzuerhalten. Es ist immer ein Akt der Balance zwischen Führung und Verführung des Zuschauers, Lesers oder Zuhörers.
Filmpuls:Vor dem Ende dieses Interviews müssen wir den großen Spannungsbogen, den du eingangs angerissen hast, auflösen. Du hast nämlich immer noch nicht erklärt, warum du dich rückblickend über die Weise schämst, wie du die Mittel zur Spannungserzeugung in Geld verwandelt hast!
Gabriela: (nickt). Auch dir ganz herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch und die guten Fragen! (lacht).
Filmpuls:Haha! Ist das nun wieder ein Cliffhanger oder war es wirklich der Abspann?
Gabriela:Weder noch. Es war tatsächlich die Antwort, wenn auch verpackt in das dramaturgische Mittel, das Ursache und Wirkung bei meinem Erfolg war. Es heißt Verzögerung der Auflösung. Bei einem Cliffhanger steigst du, nachdem du bereits mit der Antwort gestartet bist, kurz vor dem entscheidenden, oder erklärenden, Höhepunkt aus. Verzögerung, Dramaturgen nennen diesen Trick Retardierung. Sie hat komplett einen anderen Zweck. Streng genommen erzeugst du damit keine Spannung. Sondern du steigert sie nochmals. Suspense muss also bereits bestehen.
Solange du etwas zu erzählen hast und es jemanden gibt, der dir zuhört, bleibt Spannung ein entscheidendes Element für erfolgreiches Storytelling.
Gabriela Weingartner
Wenn du mit Verzögerungen arbeitest, legst du in dem Moment, in dem die Auflösung (= Beantwortung offener Fragen im Handlungsstrang, Anm.d.R.) greifbar nahe ist, plötzlich und unerwartet ein neues Hindernis in den Weg: Päng! Diese Technik kannst du auch als Autor:in sehr effektvoll einsetzen. Aus heutiger Sicht denke ich, dass ich dieses Mittel damals mit Aspirin verwechselt habe. Kurzum: Meine Storys haben sich also superspannend gelesen und angefühlt. Weit mehr, als sie es im Kern tatsächlich waren. Was ich nämlich sehr viel besser konnte und kann, als gute Geschichten zu erfinden, war und ist Geschichten gut zu erzählen, ihr Potenzial als Versprechen zu formulieren. Meine Treatments damals haben das dramaturgische Mittel der Verzögerung nicht gebraucht, sondern oftmals nahezu missbraucht. Zu meiner Entlastung darf ich aber anführen, dass jemand, der in seiner professionellen Funktion für sowas gutes Geld bezahlt, in der Lage sein müsste, zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden. Aber überhaupt, das würde heute, weil sich der Markt komplett verändert hat, so niemals mehr funktionieren: die Zeiten, in denen ein Studio wie bei Joe Eszterhas für das Drehbuch von „Basic Instinct“ kurz mal 3 Millionen auf den Tisch legt, sind vorbei! Was aber dafür immer sein wird und ist: Solange du eine gute Geschichte und jemanden hast, dem du diese erzählen kannst, musst du dich mit der Frage, wie man Spannung aufbaut, beschäftigen.
Das Interview wurde von Filmpuls-Redaktor Pavel Sokolov geführt. Die Anmerkungen in Klammern der Redaktion wurden in Absprache mit Gabriela Weingartner nachträglich zum leichteren Verständnis eingefügt. Transkription: Aprilia Parrino.
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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 02.05.2023
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