Unsichtbare Schnitte und 30-Grad-Regel verstehen und im Filmschnitt professionell anwenden

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… Wie sichtbare Schnitte dank der 30-Grad Regel unsichtbar werden | © Symbolbild: Pavel Sokolov

Eines der faszinierendsten Phänomene beim Videoschnitt sind unsichtbare Schnitte. Professionelle Filme und erfahrene Cutter für Kinofilme setzen seit jeher auf diese Art der Filmmontage, weil sie das Erzählen von Storys mithilfe der 30-Grad-Regel ebenso perfekt unterstützen wie den Transport von Botschaften in der Kommunikation mit Bewegtbild.

Filmpuls erklärt in diesem Artikel mit Beispielen und Grafiken, wie unsichtbare Schnitte funktionieren und welche Rolle die 30-Grad-Regel dabei spielt.

Was sind unsichtbare Schnitte?

Unsichtbare Schnitte sind nicht-wahrgenommene Übergänge zwischen unterschiedlichen Film-Einstellungen mit vergleichbarem Bildinhalt. Klassische Anwendungsfälle sind die Montage unterschiedlicher Einstellungsgrößen.

99 % aller Filmschnitte gehören in diese Kategorie. Nur weiß das kaum einer der Zuschauer, der sich ein Video ansieht.

Der unsichtbare Schnitt ist die Antwort auf die Frage: Wie lassen sich diese unterschiedlichen Größen von Einstellungen editieren, ohne dass der Bildwechsel die Emotionalität oder den Eindruck einer nahtlosen Handlung unterbricht?

  • Halbnahe
  • Nahaufnahme
  • Großaufnahme

Grafik: Beispielhafte Abfolge unterschiedlichen Größen von Einstellungen für eine Filmszene

Unsichtbare Schnitte finden direkt vor unseren Augen statt. Trotzdem werden vom Hirn nicht wahrgenommen. In diesem psychologischen Wahrnehmungseffekt liegt ihre Wichtigkeit. Weil diese Schnittmethode nicht vom Inhalt eines Films ablenkt.

Synonyme für die Bezeichnung sind die französische Découpage classique und außerhalb des deutschen Sprachraums das Continuity editing.

Wer hat’s erfunden?

Ab 1895, vor 122 Jahren also, fanden die ersten kommerziellen Kino-Vorführungen statt. Schon fünf Jahre später entstanden, zuerst empirisch und dann wissenschaftlich belegt, Filmtheorien, wie die Emotionalität des Zuschauers mit Bewegtbild optimal geführt werden konnte.

Unsichtbare Schnitte sind also weder eine Neuheit noch eine Besonderheit oder ein Geheimnis. Und auch kein Ding der Unmöglichkeit. Sie finden seit jeher nicht nur in großen Hollywood-Produktionen Anwendung. Sondern sie sind heute Standard in jeder professionellen und wirkungsorientierten Film- und Videoproduktion.

Warum funktionieren unsichtbare Schnitte?

Das Geheimnis unsichtbarer Schnitte ist ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen. Das menschliche Hirn ist nämlich bereit, an eine Kontinuität zu glauben, wenn es mit einer offensichtlichen Diskontinuität im sequenziellen Ablauf konfrontiert wird.

Oder, einfach erklärt: Der Mensch sucht immer und überall nach Mustern und Sinnhaftigkeit. Auch dort, wo das Auge die unmissverständliche Information bekommt, dass zwei unterschiedliche Bilder aufeinanderfolgen – die ganz klar nicht zusammengehören.

Das Hirn des Menschen mag keine Diskontinuität und baut darum – ob wir wollen oder nicht – Brücken.

Profi-Tipp

Paradoxerweise wirken erkennbare Schnitte, welche stark voneinander abweichende visuelle Inhalte in der Montage zusammenfügen, weit weniger störend auf die Wahrnehmung des Zuschauers als Cuts, die zwei fast identische Einstellungen verknüpfen. Unterscheiden sich aufeinander folgende Bildinhalte nur minimal, empfindet der Zuschauer eines Videos dies als Fehler und wird abgelenkt.

Damit das Phänomen des unsichtbaren Schnitts funktioniert, ist bei den Dreharbeiten Einhaltung der berühmten 30-Grad-Regel unabdingbar.

Was heißt 30-Grad-Regel beim Filmdreh?

Die 30-Grad-Regel besagt, dass ein Schnitt nur dann nicht als störend erkannt wird, wenn sich die Einstellungen deutlich voneinander unterscheiden. Darum legt die Regel fest, welche Positionen eine Kamera bei einem Filmdreh einnehmen darf – und welche nicht.

Grafik 1: Klassische Kamera-Anordnung

Grafik 1: Unsichtbare Schnitte bei Film und Video

In jedem Film gibt es die Situation, dass der Regisseur die Einstellungsgröße ändern möchte. Etwa, um eine Person größer in Bild zu sehen. Erfahrene Kameraleute verschieben die Kamera bei diesem Wunsch nach Veränderung des Bildausschnitts um mindestens 30-Grad. Denn damit ist sichergestellt, dass im Editing mit unsichtbaren, also nicht störenden, Schnitten gearbeitet werden kann.

Grafik 2: die 30-Grad Regel. Der Winkel der mit einem „Kreuz“ gekennzeichneten Kamerapositionen ist zu klein. Aufnahmen aus dieser Stellung lassen sich nicht unsichtbar montieren.

Grafik 2: Die 30-Grad-Regel

Die 30-Grad-Regel ist bei den Dreharbeiten der Garant dafür, dass später im Editing unsichtbare Schnitte eingesetzt werden können.

Fehler bei 30-Grad-Regel und unsichtbarem Schnitt

Wer eine Person aus größerer Nähe sehen möchte, kann dies bei unveränderter Position der Kamera auch mit einem Wechsel der Objektive, oder mit der Zoom-Funktion erreichen.

Ein stufenloser Zoom von einer halbnahen zur nahen Einstellung erfordert keinen Schnitt. Er funktioniert. Anders bei einem Objektivwechsel. Dieser verändert die Perspektiven zu wenig, als dass der unsichtbare Schnitt funktionieren könnte,

Selbes gilt auch für eine Verschiebung des Kamerastativs auf der Kameraachse und seitwärts um weniger als 30-Grad (Grafik 2).

Unterschied zu Jump-Cut und Match Cut

Nicht zu verwechselt werden dürfen fehlerhafter Perspektiven-Wechsel mit dem sog. Jump-Cut. Diese entstehen dadurch, dass innerhalb einer Einstellung einige Sekunden fehlen („weggeschnitten“ werden). Der Jump Cut ist ein Schnitt in der Zeit im unveränderten Raum.

Grafik 3: normaler Schnitt, Match Cuts, Jump Cuts

Grafik 3: Kamerapositionen für die Filmmontage

Wie der unsichtbare Schnitt stimuliert auch der Jump Cut die subjektive Wahrnehmung des Zuschauers. Auch er profitiert von der Lücke zwischen den zwei Einstellungen.

Match Cuts sind „Schnittsprünge“ im Raum, während denen die Filmzeit nach dem aktuellen Wissensstand des Zuschauers im Film scheinbar unverändert zu bleiben scheint. Match Cuts können mit Jump Cuts – Schnitt im Zeitablauf bei identisch bleibendem Raum – verbunden werden.

Unsichtbare Schnitte in der Praxis der Filmmontage

Die Anwendung der 30-Grad-Regel vorausgesetzt, funktionieren unsichtbare Schnitt in vielen Anwendungsfällen.

Hier kommen unsichtbare Schnitte zum Tragen:
  • beim stufenweisen Übergang von Einstellungsgrößen
  • bei Dialogszenen, die als Schuss-/Gegenschuss aufgenommen werden
  • beim elliptischen Erzählen
  • wenn sich nicht der Blickwinkel der Kamera, sondern der Abstand der Kamera zu einer Person oder einem Objekt im Bildzentrum markant verändert.

In den Worten der Wissenschaft: Nach der Psychologie der Gestaltung muss es „innerhalb des Systems der Continuity eine für die menschliche Wahrnehmung anschauliche und prägnante Differenz zwischen zwei Einstellungen geben“, damit ein Schnitt als Erscheinung im Editing und der Montage unsichtbar wird.

Nicht sichtbare Schnitte: im Wortsinn verstanden

Nebst dem klassischen unsichtbaren Schnitt auf Basis der 30-Grad-Regel gibt es auch Fälle, bei denen der Schnitt kaschiert wird. Bei diesen Anwendungsarten geht es nicht um sichtbare Bildwechsel, die nicht als solche wahrgenommen werden. Sondern um im Sinn des Wortes tatsächlich unsichtbare Schnitte.

Prinzipien der Filmmontage mit vergleichbarer gestalterischen Absicht
  • Wischblenden (sog. Wipes)
  • die von Filmstudierenden und Fans von Genie Stanley Kubrick geliebten berühmt-berüchtigten Match Cuts (deutsch = zusammenfügender Schnitt in eine Bewegung zweier räumlich und zeitlich getrennter Handlungseinheiten)
  • Morphing (Computer-kalkulierte Übergänge zwischen zwei Einstellungen)

Unsichtbare Schnitte und 30-Grad-Regel zusammengefasst

Das musst du wissen

  • Unsichtbare Schnitt sind ein Phänomen, das mit der Art, wie wir Menschen Dinge wahrnehmen, zu tun hat.
  • Unser Hirn ist darauf programmiert, stets und überall nach Verbindungslinien und Zusammenhängen zu suchen. Das geschieht auch bei der Betrachtung von Videoaufnahmen. Erfolgt dort ein Bildschnitt innerhalb einer Szene, wird dieser meist nicht bewusst wahrgenommen.
  • Unsichtbare Schnitte funktionieren immer dann, wenn dabei die 30-Grad-Regel beachtet wird. Hierbei zeigt sich ein Paradox: Sich stärker unterscheidende Blickwinkel werden weniger stark als solche erkannt, während ähnliche Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven als Bildsprung wahrgenommen werden.

Unsichtbare Schnitte: Weiterführende Literatur

Alphabetische Auflistung Fachliteratur zu unsichtbaren Schnitten, 30-Grad-Regel und Filmmontage
  • Aumont, Jacques. A quoi pensent les films. Paris: Ed. Ségnier, 1996.
  • Bazin, André. „Montage interdit“. In Qu’est-ce que le cinéma? Paris: Les éditions du cerf, 1994.
  • Beller, Hans. „Filmräume als Freiräume. Über den Spielraum der Filmmontage“. In Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Hg. von Hans Beller, Martin Emele und Michael Schuster. Stuttgart: Hatje Cantz Verl., 2000.
  • Bordwell, David; Ian Christie; Karel Reisz; Donald Richie; Alain Robbe-Grillet; Kristin Thompson. Zeit, unsichtbarer Schnitt, Raum. Hg. und eingeleitet von Andreas Rost. Frankfurt a.M.: Verl. der Autoren, 1997.
  • Daney, Serge. „Le travelling de Kapo“. In Traffic n° 4. Paris: P.O.L, 1992.
  • Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. 4. Auflage. J.B. Metzler, ISBN 978-3-476-02186-1.
  • Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. 2., aktual. Auflage. Reclam, ISBN 978-3-15-010625-9
  • Konigsberg, Ira: Complete Film Dictionary. Plume, 1989, englisch, ISBN 0452009804, Seite 1
  • Rauger, Jean-François. „Sexe, violence et politique“. In Le siècle du cinéma. Hors-série des Cahiers du Cinéma. Koordiniert von Antoine de Baecque. Paris, November 2000.
  • Thompson, Kristin. „The formulation of the classical style, 1909-28.“ In The classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960. Bordwell, David; Staiger, Janet; Thompson, Kristin. London: Routledge 1994 [1985].
  • Zeyfang, Florian. „DV heißt Dziga Vertov“. In Starship Nr. 4. Berlin, Herbst 2000.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 28.02.2017

Pavel Sokolov 49 Artikel
Pavel studiert Film Editing. Er mag François Truffaut, Terrence Malick, Dr Pepper, seinen Thermaltake View 71 TG, Musik von Seeed und alle Dinge, die mit der Farbe Rot zusammenhängen, aber keinem Lebewesen Schmerzen bereiten.

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