In Geiselhaft der Taliban: »Und morgen seid ihr tot« von Michael Steiner | Filmkritik

film und morgen seid ihr tot 2021 michael steiner
Sven Schenker und Morgane Ferru in »Und morgen seid ihr tot« von Michael Steiner | © Buena Vista International

Mit dem Eröffnungsfilm »Und morgen seid ihr tot« von Regisseur Michael Steiner ist dem ZFF Zurich Filmfestival diese Woche ein kleiner Coup gelungen. Aktueller kann Kino nicht sein. Dabei gelingt dem Geiseldrama das bravouröse Kunststück, die Spannung lückenlos aufrechtzuerhalten, obwohl man weiß, dass die Geschichte am Ende gut ausgeht.

»Und morgen seid ihr tot« ist die wahre Geschichte einer ehemaligen Schweizer Polizeibeamtin. Diese gerät zusammen mit ihrem Freund, auch er Polizist, 2011 auf einer Reise durch Pakistan in die Geiselhaft von Taliban. Nach 259 Tagen entkommt das Liebespaar mit einer spektakulären Flucht.

Nun gehören Polizisten und Beamte nicht unbedingt zu den Lieblingen der Boulevardpresse. Zurück in der Heimat wurde das Paar von den Medien denn auch nicht wie Helden begrüßt: Die Rückkehrer wurden in der Schweiz über Tage als verantwortungslose Abenteurer an den Pranger gestellt. Namhafte Experten bezweifelten sogar, dass die Geschichte der eigenständigen Flucht aus der Geiselhaft der Taliban der Wahrheit entsprach. Darum, weil solches bis anhin weltweit niemandem gelungen war.

Wenn ein Film eine wahre Geschichte erzählt, ist es die Pflicht des Regisseurs, den Menschen hinter der Geschichte gerecht zu werden.
Michael Steiner

Michael Steiner folgt in seinem Film der Darstellung der beiden Geiseln mit eindrücklicher Intensität und Konsequenz. Er erzählt aus der Perspektive der beiden Gefangenen. Wie Steiner das tut, geht unter die Haut.

67%
Official Trailer »Und morgen seid ihr tot«

Und morgen seid ihr tot

Filmtitel
Regie
Michael Steiner
Filmdauer
1 Std. 55 Min.
Darsteller:in
Morgane Ferru, Sven Schelker, Ingo Ospelt, Karin Pfammatter, Suly Röthlisberger, Arda Görkem
Bewertung
★★★★☆☆
67 % von 26 Menschen lieben diesen Film
Genre
Drama, Thriller

Das junge Schweizer Paar Daniela Widmer (28) und David Och (31) wird auf seiner Reise entlang der alten Seidenstraße in Pakistan entfuhrt, 500 Kilometer weit ins kriegerische Waziristan verschleppt und dort an die Taliban übergeben. Fortan werden sie unter prekären Verhältnissen in einem Kriegsgebiet festgehalten. Gefechte und Drohnenangriffe sind an der Tagesordnung.

 

Die Verhandlungen mit der pakistanischen, und indirekt auch der Schweizer Regierung, kommen über Monate nicht voran. Erst wird die Freilassung von Taliban-Kämpfern, später Lösegeld von über fünf Millionen Dollar gefordert. Schließlich bleibt den beiden Geiseln nur Flucht oder Tod. Nach acht Monaten Geiselhaft gelingt ihnen die Flucht vor den Taliban aus eigener Kraft.

Ansehen
DVD oder Blu-Ray
★★★★★ = empfehlenswert | ★ = kaum sehenswert
Credits & Filmdaten von | Nutzung erfolgt eigenverantwortlich


Auch wenn die Sonne in Pakistan viel Schatten wirft, verzichtet Steiners Film weitgehend auf das naheliegende, plakative Schwarz-Weiß-Schema von Gut und Böse. An Kraft büßt er deswegen nicht ein. Im Gegenteil. Zu einer filmischen Leistung wie »Und morgen seid ihr tot« ist zurzeit kaum ein anderer Schweizer Regisseur in der Lage. Steiner erzählt Schweizer Geschichten in der Manier Hollywoods. Nicht immer mit Erfolg. Aber stets mit einer unbändigen Lust an neuen Filmgenre.

 

© Foto: ZFF 2018
Michael Steiner aka Steini, Schweizer Filmregisseur (Und morgen werdet ihr sterben)

Michael Steiner wurde 1969 geboren und ist in Rapperswil aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte er Kunstgeschichte, Ethnologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich, führte sein Studium aber nicht zu Ende. Das Filmemachen und das Regie-Handwerk lernte er als Autodidakt.

 

Filmografie: „Nacht der Gaukler“ (1996; Kino), „Spital in Angst“ (2001; TV-Movie), „Mein Name ist Eugen“ (2005; Kino), „Grounding – Die letzten Tage der Swissair“ (2006; Kino), „Sennentuntschi“ (2010; Kino), „Das Missen Massaker“ (2012; Kino), „Grounding 2026“ ​(2012; aus rechtlichen Gründen darf der Film nicht öffentlich gezeigt werden), „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ (2018, Kino), „Switzerländers“ (2020; Dokumentation), „Und morgen seid ihr tot“ (2021, Kino).

 

Auszeichnungen: Schweizer Filmpreis (2006), Grand Prix de Montréal (2006), Filmmaker Award beim Zurich Film Festival (2015).

 

»Und morgen seid ihr tot« startet am 28. Oktober in den Schweizer Kinos. Der Film wurde am 23. September 2021 am Zurich Film Festival ZFF als Eröffnungsfilm erstmals einem breiten Publikum vorgeführt

 

2010 erwarb Michael Steiners Produktionsfirma die Filmrechte am Buch »Und morgen seid ihr tot«, in dem Daniela Widmer und David Och ihre traumatischen Erlebnisse aus der Geiselhaft der Taliban in Pakistan aufarbeiten. 2015 erhielt Steiner zusammen mit Bernhard Burgener (Constantin Film) und Produzent Norbert Preuss den mit 75.000 Fr. dotierten, ersten ZFF Filmmaker Award. Der Drehstart war auf Februar 2016 im indischen Rajasthan festgelegt. In der Hauptrolle: ein bekannter, aber vergessener Hollywood-Star, der mit dem Film ein internationales, furioses Comeback feiern und Regisseur und Produzenten in neue Sphären katapultieren würde.

 

Stattdessen musste die hinter dem Film stehende, einst von Steiner mitgegründete, Kontraproduktion 2016 notfallmäßig aufgrund eines Verlusts in Millionenhöhe mit vier anderen Beteiligungen von Filmmogul Burgener fusioniert werden. Obwohl Preuss als Produzent der Kontraproduktion gegenüber der Presse betonte, dass der Zusammenschluss der Firmen nur Vorteile und keine Nachteile mit sich bringe, blieb ein Drehtermin für »Und morgen seid ihr tot« Wunschdenken.

 

Schließlich entschied sich Regisseur Steiner zu einem Neustart. Das Projekt wechselte die Produktionsfirma. Von einer Mitwirkung von Hollywood-Stars wurde abgesehen und zugleich das Film-Budget von 3,7 auf rund 5 Millionen erhöht. Steiner bewies auch in dieser schwierigen Phase sein internationales Format. Er war einverstanden, mit einem neuen Drehbuchautor nochmals gänzlich neu zu starten. Sein Vertrauen in die erfahrene Produktionsfirma Zodiac Pictures erwies sich als gerechtfertigt. 2020 konnte »Und morgen seid ihr tot« trotz schwierigsten Bedingungen erfolgreich abgedreht werden.

 

Entstanden ist ein Film, wie er für Michael Steiner typisch ist. Schauspieler, Kameraarbeit, Drehorte und Tonebene fügen sich wie bei allen Könnern trotz aller Schwierigkeit am Drehort scheinbar mühelos zu einem äußerst unterhaltsamen Werk auf internationalem Niveau zusammen. Die Kamera von Filip Zumbrunn und der Soundtrack von Adrian Frutiger unterstreichen diesen Anspruch gekonnt.

 

Umgekehrt, auch das ist typisch für die Filme von Michael Steiner, beschleicht den Zuschauer auch bei »Und morgen seid ihr tot« das leise Gefühl, diese Art Film schon anderswo gesehen zu haben. Nur nicht mit der Schweiz als Absender. Machart und Erzählstruktur sind respektvolle, ja sogar brillante Spiegelbilder großer internationaler Filme. Eine unverwechselbare Handschrift – sieht man vom Anspruch auf Qualität ab – ist schwer auszumachen.

 

Vielleicht ist das eine mögliche Erklärung, warum Michael Steiner als Regisseur zwar in der Schweiz weltberühmt ist, im Ausland aber bisher weitgehend ein Unbekannter geblieben ist.

 

Dennoch muss man dem Geiseldrama »Und morgen seid ihr tot« und Michael Steiner in seinem Bestreben, das Schweizer Filmschaffen auf das Niveau Hollywoods zu stemmen, unbedingten und höchsten Respekt entgegenbringen. Keiner verpackt seinen professionellen Durchhaltewillen über Jahrzehnte mit so viel charmanter Hartnäckigkeit wie der zweiundfünfzigjährige Schweizer Regisseur, der sich das Filmemachen selbst beigebracht hat.

 

Die Aktualität, die der Film durch die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan erhalten hat, ist ein Zufall. Wenn diese Zeitbezogenheit zusammen mit dem ZFF Zurich Filmfestival mithilft, dass das Kinopublikum auch über die Grenzen der Schweiz hinaus diesen Spielfilm entdeckt, ist dieses Glück mehr als verdient.

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Zachery Z. 52 Artikel
Zachery Zelluloid war in der Unterhaltungsindustrie tätig. Er schreibt unter Pseudonym, weil er weder vertraglichen Schweigepflichten verletzen, noch das wirtschaftliche Fortkommen der Berufsgattung Anwalt fördern oder Freunde brüskieren will. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

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