Warum subjektive Wahrnehmung zum Film gehört wie die Butter aufs Brot

Subjektive Wahrnehmung Film verstehen
(Fast) Alles eine Frage der Sichtweise | © 3D-Symbolbild: Pavel Sokolov

Das Privileg und Fluch des Films liegen darin, dass er durch das Auge der Kamera einen Blickwinkel einnehmen muss. Das öffnet das der subjektiven Wahrnehmung Tür und Tor. Muss man das wirklich schlecht finden?

Bei der Erläuterung der Frage, was subjektive Wahrnehmung ist und sein kann, wurde kürzlich in einer der renommiertesten Tageszeitungen Europas darüber gejammert. Videos seien in den vergangenen Jahren wegen YouTube (Zitat) „gnadenlos subjektiv und gnadenlos beliebig“ geworden – und hätten darum weitestgehend ihre Wirkung verloren.

Was für ein Käse! Wer Thesen dieser Art in seine Computertastatur hämmert, sitzt entweder im falschen Film oder weiß nicht, wie subjektive Wahrnehmung und Film, Erzählhaltung und Storytelling interagieren. Solche Behauptungen vermitteln einzig Rückschlüsse auf das mangelhafte Fachwissen des Absenders.

Das musst du wissen

  • Filme sind immer von subjektiver Wahrnehmung geprägt. Das ist keine Entschuldigung für gnadenlose Beliebigkeit.
  • Der Blickwinkel der Kamera, ob bewusst oder unbewusst bestimmt, lenkt das Auge des Zuschauers und beschneidet das Filmbild.
  • Entscheidend ist in jeder Hinsicht nicht die Frage der Subjektivität, sondern die Frage, wie man als Filmemacher damit umgeht.

Gnadenlos subjektiv? Gnadenlos beliebig?

Filme und Videos werden von Kameras aufgenommen oder im Computer generiert. Auf die eine oder andere Weise, gearbeitet wird immer mit Bildausschnitten. Das Wort Bildausschnitt sagt es schon: mit einem Ausschnitt, also einem Teil des Ganzen. Filme und Videos haben nur schon damit und darum, ob gewollt oder ungewollt, einen Blickwinkel. Genauso wenig wie ein Foto kann auch ein Film oder Video nicht und nie die objektive Realität zeigen.

Abgebildet und wiedergegeben wird nicht ein Ausschnitt der Realität, sondern ein Abbild eines dokumentierten (realen) oder inszenierten Augenblicks.

Auch wenn am Ende viele dieser Ausschnitte (in der Filmsprache „Einstellungen“ genannt) nach der Film-Montage zusammen ein großes Ganzes (den Film) ergeben: Jedes Teil dieses Puzzles ist subjektiv. Subjektiv, nicht objektiv. Das Gesamtwerk bleibt es darum auch, ja, es soll es in vielen Fällen sogar sein. Denn ohne eine starke Erzählperspektive ist starkes Storytelling überhaupt nicht möglich.

Was objektiv messbar ist, wird durch die im „Objekt“ wirksamen, individuellen Kräfte und Faktoren erzeugt, oder zumindest in einer objektiv nicht kontrollierbaren Weise beeinflusst.
Gerald Hüther

Ob TV-Spot, Spielfilm, Produktvideo, Web-Video oder beim Imagefilm produzieren: Es gibt keine objektive Bewegtbildkommunikation. Es gibt nur Filme, in denen bewusst mit der Subjektivität umgegangen wird, oder in denen aus Ignoranz eine unbewusste, unkontrollierte Subjektivität zum Tragen kommt.

Gefilterte Informationen und subjektive Wahrnehmung gehören zu den grundlegenden Eigenschaften des Films.

APOV (Point of View)

Die Krönung der Subjektivität filmischen Erzählens ist die sog. POV-Einstellung. Das Kürzel mit drei Buchstaben bedeutet Point-of-View (deutsch: Blickwinkel). Gemeint ist damit nicht der Blickwinkel der Kamera an sich, sondern, dass die Kamera stellvertretend für einen Protagonisten im Film den Blickwinkel dieser einen Person einnimmt:

Der Zuschauer sieht in einer POV-Einstellung die Handlung aus der Sicht des Darstellers. Die Kamera ist damit nicht mehr nur das Auge des Publikums, sondern zusätzlich (!) auch noch das Auge des Darstellers.

B360° Videos

Wer behauptet, mit 360° Videos lasse sich das Argument des Blickwinkels widerlegen, täuscht sich. Zwar zeigen 360 Videos als im Trend liegende Spielart der Videokommunikation ein Rundum-Bild der Umwelt, durch das sich der User mehr oder weniger interaktiv scrollen darf und kann.

Nur: Ob zufällig und bedingt durch den Drehort, ob an beliebiger Stelle platziert, oder ob bewusst und mit viel liebevoller Überlegung am Drehort positioniert, sogar ein 360 Grad Video ist durch subjektive Wahrnehmung geprägt. Es zeigt nur einen visuellen Kontaktpunkt zur Umwelt, nur eine gewählte Raumsituation zu einem gewählten Zeitpunkt, und ist darum … – subjektiv.

CBeliebigkeit

Mit einem Videokonzept nach dem Prinzip Copy-and-paste kann man nichts falsch machen. Aber man macht auch nichts richtig. Zufall und subjektive Wahrnehmung sind zwei unterschiedliche Dinge. Beide haben miteinander nichts zu tun. Aber viel mit fehlendem Wissen und mit der Absenz von filmischem Handwerk.

Gnadenlose Beliebigkeit war für Marketing und Kommunikation und im Kampf um Aufmerksamkeit noch nie ein Erfolgsrezept

Films ist nicht nur Transportmittel und Wirtschaftsgut, sondern auch ein Medium mit inhärenten künstlerischem Potenzial. Die Wehklagen ob der Beliebigkeit sind nichts Neues. Schon die de’ Medici beschäftigten sich im 16. und 17. Jahrhundert mit der Frage, wie viel subjektive Wahrnehmung, schöpferische Eigenständigkeit und Kreativität ein Bild besitzen muss, um als Gemälde mehr als die Summe seiner Einzelteile darzustellen.

DWas ist Subjektivität?

Subjektivität kommt aus dem Latein und steht für „Unterworfen sein“. Der Begriff ist seit der Antike in seiner genauen Definition philosophisch umstritten. Einig sind sich die Denker aber darin, dass die Subjektivität den Menschen vom Gegenstand unterscheidet (ähnliche Fragen prägen zunehmend unsere Wahrnehmung und unseren Umgang mit der Tierwelt).

Wer einem Blickwinkel, wer einer Ansicht unterworfen ist, ist nicht objektiv. Was nicht objektiv ist, das macht Angst.

In der Wissenschaft findet die subjektive Wahrnehmung einzig als Fehlerquelle ihre Anerkennung. In der Psychologie dagegen wird, wie in den Sozialwissenschaften, der Erkenntniswert Forschungsmethoden seit Längerem meist anerkannt. Wohl auch, weil als Gegenstand dieser Forschungen Subjekte, Menschen, im Zentrum stehen. Studien in diesem Bereich sind per se subjektorientiert.

In der Pädagogik wird Subjektivität auch in dem Sinne verstanden, dass sie dem Menschen hilft, seine Handlungsfähigkeit und den Erhalt des Selbstwertgefühls zu definieren.

Subjektivität, nicht nur Objektivität, ermöglicht dem Menschen, Krisen zu meistern und dem konstanten Fluss an Herausforderungen im Alltag erfolgreich zu begegnen.

Jeder Einzelne ist ein Idiot. Alle zusammen sind ein Genie.
Billy Wilder

Man kann darum in Bezug auf die Subjektivität mit guten Argumenten sogar so weit gehen, zu behaupten, die Wirklichkeit bestehe aus der Summe der subjektiven Wahrnehmung aller Menschen. Damit wäre die Wirklichkeit nicht objektiv und unabhängig von der Subjektivität, sondern Objektivität entstünde erst durch das Zusammenführen der individuellen Ansichten aller Beteiligten.

EFilm und Video heißt immer: subjektive Wahrnehmung

Filme und Videos sind, ungeachtet wie weit und breit der Begriff der Subjektivität ausgelegt wird, wie unsere Wahrnehmung: immer subjektiv. Diesbezüglich gibt es keine Ausreden. Es ist wie bei der Wirkung von Farben oder der Sprache der Blumen.

Sind Filme gnadenlos subjektiv, umso besser!

Wer Subjektivität in der visuellen Kommunikation verneint, überlasst die Antworten, und die Wirkung, und damit das Erreichen seiner Kommunikationsziele, dem Zufall, weil damit einer unkontrolliert entstehenden Subjektivität Tür und Tor geöffnet werden. Das mag für Amateure und Personen, die ihre Filme dem weltweit größten Bewegtbild-Friedhof, YouTube, anvertrauen wollen (über 97 % der auf YouTube Kanäle hochgeladenen Videos werden nicht mehr als dreimal angeklickt) in Ordnung sein.

Nicht die unsinnige Frage, ob Filme objektiv oder subjektiv sein können, darf im Zentrum stehen. Viel wichtiger ist es, wie klug mit der Subjektivität umgegangen wird.

Last but not least: subjektiv ist nicht nur der Blick der Kamera und der Filmemacher selbst. Auch Filme sehen ist subjektiv. Jeder Zuschauer ist anders, sieht anders und versteht Filme und Video anders. So wie die Brennweite die Perspektive der Kamera mitbestimmt, bestimmt der persönliche Blickwinkel die Wahrnehmung mit.

Fazit zur subjektiven Wahrnehmung

Für Profis darf Unwissenheit keine Option sein. Fragen kostet nichts. Im Strafrecht wie in der Kommunikation gilt für den Menschen: Unwissen schützt vor Strafe nicht.

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Filmtipp

Ein grausam grandioses, unübertreffliches Beispiel für das Leben, die Wahrnehmung, die Subjektivität, Wirklichkeit und filmische Arbeit mit subjektiver Kamera besitzt der in Cannes ausgezeichnete und dieses Jahr zusätzlich mit einem Oscar prämierte Spielfilm Son of Saul.

Das Meisterwerk von Regisseur László Nemes Jeles und Kameramann Mátyás Erdély zeigt nicht nur Menschen und Grausamkeiten, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen. Sondern vertraut, wie schon lange kein Film mehr, auf die Kraft der Begrenzung des Blickwinkels, auf die Ton-Ebene und auf die Vorstellungskraft des Zuschauers. Kluger kann subjektive Wahrnehmung nicht für einen Film genutzt werden.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 14.06.2016

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