Es knirscht im Weltgetriebe. Als wären wir in einem schlechten Film, enthüllt die Realität dabei tragische Heldenfiguren und Masthähnchen, die für sich in Anspruch nehmen, Adler zu sein, schreibt Carlo P. Olsson über den ehemaligen Komiker, Schauspieler und heutigen Präsidenten der Ukraine, Wolodmir Selenskyj.
Das Nette an der Unterhaltung ist der Fakt, dass der Zweck der dahinterliegenden Industrie genau das ist, was der Name besagt: zu unterhalten. Ist das Kinoticket verkauft oder das Streaming-Abo erneuert, ist der Zweck erfüllt.
Drehbuchautoren, Regisseure, Schauspieler und Produzenten kopieren darum mit ihrem Schaffen das Leben. Dennoch: Filmhandlungen sind überspitzt, zugespitzt und haben mit dem richtigen Leben etwa so viel zu tun, wie Putin mit Ronald McDonald.
Eines der großen Privilegien im Unterhaltungsgeschäft ist der Umstand, dass jeder Film und jede Serie ein Projekt ist. Die Arbeit daran ist zeitlich begrenzt. Ist das Werk nach einigen Wochen oder Monaten produziert, bleibt den Beteiligten nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob die breite Öffentlichkeit das Resultat der Arbeit annimmt oder ablehnt.
Weil sich Erfolg dabei nicht voraussagen lässt, neigen viele Filmschaffende dazu, kurzfristig zu denken und das Leben dann zu genießen, wenn man gerade etwas Geld auf dem eigenen Bankkonto hat. Verantwortung und Nachhaltigkeit definieren sich anders.
Kommt hinzu, dass im geflügelten Wort für Film und Theater ein Körnchen Wahrheit steckt: Der Beruf des Schauspielers ist immer auch Krankheitsbild.
Würde man einem Komiker aus einer fiktiven TV-Serie vor diesem Hintergrund das höchst ernste Amt eines Kriegspräsidenten zutrauen? Reagan als US-Präsident war und blieb die Ausnahme. Seine politische Karriere bestätigte allein, dass man im Land der begrenzten Unmöglichkeiten seine Westernhelden aus Film und Fernsehen liebt.
Nun also Wolodmir Selenskyj. Berühmt geworden als Schauspieler, welcher in der Erfolgsserie »Diener des Volkes« erfolgreich gegen Korruption kämpft und letztlich zum Präsidenten seines Landes wird. Mit seiner tatsächlichen Wahl zum ukrainischen Präsidenten imitierte das Leben den Film. Im früheren Leben synchronisierte Komiker Selenskyj Hollywood-Komödien und Animationsfilme, so etwa „Horton hört ein Ho!“ und die pubertäre Garfield-Reihe.
Am 24. Februar, als Putin seinen Beschluss in Realität umsetzte, die Ukrainer mit Arroganz und Ignoranz zurück in den Schoß von Mütterchen Russland zu zwingen, wurde Schauspieler Selenskyj zum Regisseur Selenskyj. Und brillierte in dieser höchst anspruchsvollen Doppelrolle wie kein anderer zuvor. Nicht in einem fiktiven Film. Sondern in der bitteren, blutigen Realität eines Verteidigungskrieges gegen einen ungleich größeren Aggressor mit Atomwaffen.
Film ist Teamarbeit und Vertrauen der Schlüssel, damit die Einzelteile in der Montage mehr als ihre Summe werden. Folgerichtig hat Selenskyj den Produzenten seiner Serie zum Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU berufen. Seine Ehefrau, im früheren Leben die Drehbuchautorin der Serie, die Selenskyj als Schauspieler zu Ruhm und zum Wahlerfolg verhalf, schreibt dem Vernehmen nach nun seine brillanten Reden.
Ein Happy End ist trotzdem ungewiss. Helden und Tragödien sind gewöhnlich zwei Seiten derselben Medaille. Das gilt auch für den Präsidenten der Ukraine. Ob Selenskyj, seine Familie und sein Team den Krieg überleben – sie alle stehen auf den Todeslisten der Russen – ist fraglich.
Unbestritten ist, dass der verzweifelte Selenskyj, anders als die Mehrheit aller Präsidenten der Länder dieser Welt, diese Tage mitten im Auge des Hurrikans steht. Für das Versprechen, für sein Land standhaft zu bleiben, hält er den eigenen Kopf hin.
Neben dem Menschen Selenskyj erscheinen die ausländischen Politiker, die ihm ihre Aufwartung in Kiew machen, oft wie mittelmäßige Schauspieler, die sich in einem Casting für die Rolle von Volksvertretern bewerben.
Winston Churchill würde – um es mit seinen eigenen Worten zu sagen – angesichts des Mutes des ehemaligen Komikers Selenskyj „schnurren wie sechs Kater!“ Der britische Kriegspremier war im großen Krieg der einzige Spitzenpolitiker der alliierten Kräfte, der mehrfach die Front besuchte, ja sogar mit Zwang davon abgehalten werden musste, von den vordersten Frontlinien aus persönlich den Gegner zu beobachten. Stalin und Hitler, das ist historisch verbürgt, waren während des Krieges kein einziges Mal dort, wo ihr Volk und ihre Soldaten für sie kämpften und ihr Leben ließen.
„Wo man nicht zusammenkommen kann, bekommt man den Knüppel auf die Rübe!“, so erklärte Putin in Moskau vor zwölf Jahren sein Rezept zur Verhinderung von Demonstrationen im eigenen Land. Nicht zuletzt wegen Selenskyj droht Putin in der Ukraine nun über weit mehr als nur den eigenen Knüppel zu stolpern. Aber anders als in einem Film wird das Unglück damit nicht zu Ende sein. Sondern wahrscheinlich erst beginnen.
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