Warum, was der Mensch sieht, weit mehr ist, als was das menschliche Auge als Sinnesorgan wahrnimmt

sehen hirn kino im kopf
Das faszinierende Zusammenspiel von Auge und Hirn | © Illustration: Sokolov

In diesem Beitrag stehen zwei heimliche Protagonisten im Vordergrund, die weit enger und komplexer zusammenarbeiten, als man das auf den ersten Blick denken möchte: Auge und Gehirn. Beide Organe bestimmen die Wirklichkeit – oder das, was wir dafür halten – auf faszinierende Weise mit.

Karl Marx stellte in Bezug auf die Entwicklung der Gesellschaft fest, dass das Bewusstsein unser Sein bestimmt. Für die Art und Weise, wie der Mensch visuelle Sinneswahrnehmungen verarbeitet, gilt das Umgekehrte: Das unbewusste Sein bestimmt unser Bewusstsein.

Wie wir sehen, was wir sehen

Die Art und Weise, wie wir heute sehen und Dinge wahrnehmen, ist die Folge einer 500 Millionen Jahre langen biologischen Entwicklung.

Wie unser Hirn visuelle Reize bearbeitet und verarbeitet
  • Fünf Milliarden Neuronen beschäftigen sich als Ergebnis davon allein mit der Verarbeitung visueller Reize in unserem Hirn.
  • Diese Neuronen nutzen dazu mehr als 30 unterschiedliche Hirnregionen, welche die Signale aus unseren Augen zu einem scheinbar einheitlichen Bild verknüpfen.
  • Nach dem Stand der heutigen Hirnforschung beruht unsere Wahrnehmung nur zu einem geringen Teil aus dem, was wir „wirklich“ sehen und damit auf den Lichtsignalen, die via Sehnerv und Thalamus in der Großhirnrinde zu einem Seherlebnis verarbeitet werden.
  • Der größte Teil von dem, was unsere visuelle Wahrnehmung zum eindrücklichen Erlebnis macht, stammt aus unserem Hirn selbst.
  • Es sind Erinnerungen und Gefühle, die im Hirn mit den Sehsignalen ohne unser Zutun vermischt werden. Sie werden von unserem Hirn zu einem individuellen, scheinbar logischen und vorgeblich realitätsnahen, und damit für uns als Person individuell fassbaren und erfassbaren Erlebnis geformt.
  • Diese Wirklichkeitskonstruktion ist für den Menschen überlebenswichtig: Entscheidungen sind nur in einer (scheinbar) klar definierten, verständlichen Welt möglich. Dafür sind ein Referenzsystem und Orientierungswerte erforderlich. Die Filter-Funktion als Kombination aus effektivem und selektivem Sehen erschafft diese Basis.
  • Das Hirn lässt die Welt für jeden Menschen individuell entstehen. Unzählige Neuronen bilden riesige Koalitionen aus Zellen, nur damit uns unser Umfeld als Einheit ohne Brüche erscheint.

Kraken (achtarmige Tintenfische) sind ein anschauliches Beispiel für die Zusammenarbeit von Auge und Hirn und zur Illustration des Unterschieds zwischen Sehen und Film-Wahrnehmung. Durch eine zufällige evolutionäre Parallelentwicklung besitzen Kraken ähnliche Sehorgane wie der Mensch.

Weil die visuelle Wirklichkeit nicht in den Augen, sondern im Gehirn entsteht, welches das Überleben der jeweiligen Spezies sicherzustellen hat, sehen Kraken zwar so wie die Spezies Homo sapiens. Aber trotz vergleichbarer Sehorgane nehmen sie ihre Umwelt komplett unterschiedlich wahr.

Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen. Sondern, was wir sind.
Fernando Pessoa

Aus Sicht der Hirnforschung gibt es in einem Kinosaal kein Publikum. Es gibt nur Menschen. Diese erleben den identischen Film im Kino höchst individuell und unterschiedlich.

Die Entwicklung des Sehens

Bis vor wenigen Jahrzehnten galt es als gesichert, dass Neugeborene kaum sehen oder hören und kaum Schmerz empfinden können. Heute denkt die Wissenschaft radikal anders.

Sehen lernen im Babyalter und bei Kleinkindern
  • Säuglinge sind erstaunlich kompetent, empfangene Signale sinnvoll zu interpretieren.
  • Der Mensch als Baby mag teilnahmslos wirken, aber seine Sinne für die spätere Kommunikation arbeiten bereits auf Hochtouren.
  • Bereits in der Gebärmutter werden der Tastsinn und der Geruchs- und Geschmackssinn wie auch der Hörsinn für die späteren Aufgaben trainiert.
  • Die einzigen Sinnesorgane, die kaum vor der Geburt stimuliert werden, sind die Augen. Sie sind im letzten Drittel der Schwangerschaft zwar schon funktionstüchtig.
  • Schon Ungeborene können sehen und nehmen Helligkeitsunterschiede im Mutterleib wahr (beispielsweise wenn die Mutter mit nacktem Bauch am Strand sonnt).
  • In den ersten Monaten nach der Geburt schärfen Babys die Wahrnehmung und verknüpfen ihr Sehen mit den anderen Sinnen. In dieser Phase entwickelt sich die Fähigkeit, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen noch schneller als die Fähigkeit, zu sehen und zu hören.
  • Dann aber beginnt sich in erstaunlich kurzer Zeit das Auge zum wichtigsten Sinnesorgan zu entwickeln. Wie kein anderes Medium übermittelt es unserem Hirn, selbst aus großer Entfernung, viele detailreiche Informationen mittels Lichtstrahlen.
  • Unterschiedliche Details der Umwelt hinterlassen dabei ihre Spuren im Gehirn und prägen so immer auch zukünftige Seherlebnisse.

Ab etwa dem sechsten Lebensjahr entspricht die Sehschärfe des kindlichen Auges etwa derjenigen eines Erwachsenen. Sie ist damit physisch am Höhepunkt der Entwicklung angelangt. Die eigentliche Schaltzentrale für unser Sehen, das Hirn, entwickelt sich bis ins hohe Alter weiter.

Das Hirn arbeitet lebenslang daran, unsere Seherlebnisse möglichst sinnvoll für die eigene Lebensrealität zu interpretieren.

Die visuelle Wirklichkeit ist chaotisch

Eine Reihenfolge verschiedener Tönen erlebt der Mensch nur deshalb als Einheit, weil das Gehirn in der Lage ist, vorangegangene und gerade erklingende Laute miteinander zu einer Melodie zu verbinden. Genau so geschieht es auch mit Bildeindrücken.

Die Filter-Funktionen des Gehirns am Beispiel der Farbe
  • Selbst scheinbar einfache Sinneseindrücke dringen nicht ungefiltert in das Bewusstsein vor. Einige Bereiche des Gehirns sind ohne Unterbrechung damit beschäftigt, die gelernte Farbigkeit eines Objekts konstant zu halten und anzuwenden.
  • In Realität ist Farbe immer auch abhängig davon, wie kalt oder warm das auf das Objekt fallende Licht ist.
  • Dank der Korrekturfunktion des Hirns erscheint eine Rose immer rot. Dies losgelöst davon, ob sie von der grellen Mittagssonne, einer blauen Energiesparlampe oder vom Abendrot beleuchtet wird.
  • Die Farbkorrektur des Hirns stellt ebenso sicher, dass alle Bereiche der Rose rot sind. Ungeachtet davon, ob einzelne Bereiche der Rose abgeschattet sind und andere im Licht liegen – und damit in Realität ein Farbspektrum haben, das nicht der Farbe Rot entspricht.

Ohne korrigierenden Autofokus im Hirn wäre der Mensch ob der Vielfalt der Eindrücke dieser Welt handlungsunfähig. Das Gehirn sortiert und filtert die chaotische, reale Wirklichkeit. Es bündelt die Empfindungen, gleicht sie mit Erwartungen und Vorwissen ab und lässt so im Bewusstsein das stabile Bild eines Hier und jetzt entstehen.

Wie wichtig visuelle Sinneseindrücke für den Menschen sind, belegt die wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Erinnerungswerte:
  • Nach einer Stunde kann sich der Mensch noch an 10 % von dem erinnern, was er gehört hat.
  • 17 % der Menschen erinnern sich nach 60 Minuten in den Grundzügen noch an das, was sie gelesen haben.
  • Ganz anders, wenn eine Person einen Vorgang selbst erlebt hat – oder eben persönlich (!) sieht: in diesem Fall bleiben stolze 80 % der Informationen haften.
  • Verbindet sich ein visuelles Erlebnis mit einer Tätigkeit, dazu zählt auch die Interaktion im Rahmen der virtuellen Realität, steigert sich der Erinnerungswert auf sagenhafte 90 %.

[wpdatachart id=3]

Die Einheit von Körper und Wahrnehmung

1998 wurde in den USA eine Untersuchung zur Einheit von Körper und Wahrnehmung veröffentlicht. Die Teilnehmer der Studie mussten sich an einen Tisch setzen und ihre linke Hand vor sich auf die Tischplatte legen. Die Forscher deckten diese Hand mit einem Sichtschutz und legten (im sichtbaren Bereich) eine Hand aus Gummi neben die echte Hand.

Wahrnehmung Gehirn filtert Auge
© Foto: freepik.com
Sehen vs. Aufmerksamkeit

Das Gorilla Experiment

Das berühmte „Gorilla-Experiment“ des US-Psychologen Daniel Simons aus dem Jahr 1999 belegt das Ausblenden von visuellem Informationsmüll eindrücklich: Simons ließ in einem Video zwei Basketball-Teams gegeneinander spielen. Die Teilnehmer der Studie wurden gebeten, zu zählen, wie viele Pässe sich die Mitglieder der einen Mannschaft zuspielten.

Mehr als die Hälfte der Zuschauer verneinte am Ende des Videos die Frage, ob während des Spiels etwas Besonderes vorgefallen sei. Ihr Hirn blendete aus, dass unübersehbar und mitten im Spiel ein als Gorilla verkleideter Mann das Spielfeld betrat. Dieser mischte sich fröhlich unter die Spieler, um sich nach Affenart auf die Brust zu trommeln, und dann wieder gemächlich aus dem Bild lief.

Das Fazit der Studie: Sehen wird in erschreckend hohem Ausmaß von unserer Aufmerksamkeit mitbestimmt.

Wurden beide Hände mit einem Pinsel gleichzeitig gestreichelt, verspürten die Teilnehmer die Berührung nicht in ihrer echten, eigenen Hand, sondern in der für sie sichtbaren, künstlichen Hand. Das Bewusstsein hatte diese in die Wahrnehmung des eigenen Körpermodells integriert.

Die Studie beweist, dass scheinbare Übereinstimmungen optischer Informationen oder Berührungen ausreichen, damit das Hirn ein nicht zum Organismus gehörendes, gesehenes Objekt als einen eigenen Körperteil wahrnimmt. Ob wir es wollen oder nicht, das Gehirn synchronisiert die eigene körperliche Befindlichkeit mit den visuellen Impulsen aus unserem Umfeld.

Wie man ohne Augen sehen lernen kann

Die menschliche Fähigkeit zu sehen, beschränkt sich nicht nur auf das Auge. Der menschliche Wahrnehmungsapparat zeigt sich auch in Bezug auf visuelle Reize erstaunlich flexibel. Diese Flexibilität besteht darum, weil die menschlichen Sinnesorgane zwar spezifisch auf Umweltreize reagieren (Schall, Licht, Duftstoffe), aber immer denselben neuronalen Code aus elektrischen Signalen an das Hirn senden. Je nachdem, welche Hirnregion diese Signale empfängt und verarbeitet, ändert sich die Empfindung beim Filme sehen.

Eindrücklich demonstriert die Wichtigkeit der Signal-verarbeitenden Stelle in unserem Hirn das Beispiel von Blinden, die gelernt haben, statt mit den Augen mit der Zunge zu sehen. Damit Sehen mit der Zunge möglich ist, braucht es drei Dinge: eine Videokamera, ein kleines Plättchen bestückt mit 400 Elektroden, und Training.

Die Elektroden auf dem Plättchen verwandeln das Bild der Videokamera, die in der Regel vom Blinden auf dem Kopf getragen wird, in ein Raster aus elektrischen Impulsen. Legt sich der Blinde das Plättchen im Mund auf die Zunge, übertragen die Elektroden über den Speichel auf der Zunge die Impulse auf die Nerven der Zunge.

Wie Blinde mit einem Zungenplättchen sehen lernen
  • Am Anfang kann das Hirn mit den ungewohnten Impulsen nicht viel anfangen. Die Signale sind ohne Übung erstmals nicht interpretiert.
  • Die Nerven der Zunge, die für Berührungsreize zuständig sind, lernen bei wiederholtem Training aber schnell, die elektronischen Impuls-Raster neu zu interpretieren.
  • Bald schon werden sie vom Hirn als Eindrücke interpretiert, die man gemeinhin als Sehen bezeichnet: Sie geben Auskunft über die Form, Größe eines Objekts, Bewegungsrichtungen oder Raumtiefe.
  • Mit etwas Übung vermag der Blinde dank diesem Plättchen auf der Zunge präzise nach einer Kaffeetasse zu greifen, einen Ball aufzufangen oder sogar zu lesen!

Die Wissenschaft arbeitet daran, über vergleichbare Geräte wie das Zungenplättchen auch solche Daten in unser Hirn einzuspeisen, die unsere Sinne normalerweise gar nicht wahrnehmen können. Infrarotsignale oder ultraviolettes Licht sind dabei noch die harmlosen Varianten.

Datenbrillen und virtuelle Realität (VR), aber insbesondere auch die sich am Horizont bereits anbahnende Kombination von organischem Bewusstsein mit künstlicher Intelligenz, versetzen unsere bisherige Art, mit den Augen zu sehen und zu erleben – oder vielmehr: das Gesehene zu interpretieren und zu verarbeiten – für kommende Generationen möglicherweise in gänzliche neue Universen.

Zusammengefasst: Wahrnehmung und Sehen

Das musst du wissen

  • Was wir sehen, ist nur zu einem geringen Teil das Bild, das wir in Realität vor uns haben. Unser Hirn reicht die Informationen, die das Auge ihm übermittelt, mit wesentlichen Zusatzinformationen an.
  • Seherlebnisse werden vom Gehirn so optimiert, dass sie in unsere Erfahrungswelt passen. Dieser Optimierungsprozess geschieht lebenslang. Daraus folgt: Jeder Mensch sieht anders.
  • Farbwerte werden als gelerntes Schema abgespeichert – und bei Seheindrücken über die tatsächlichen, physikalisch-neurologischen Farberlebnisse gelegt.
  • Wir sind in der Lage, auch nicht zu unserem Körper gehörende Objekte, die wir sehen, als Körperteil zu fühlen.

Wenn eine Million Menschen einer meiner Filme sehen, so hoffe ich, sie sehen eine Million unterschiedlicher Filme.
Quentin Tarantino

Wie der Mensch sieht: Quellen und weiterführende Literatur

Fehler gefunden? Jetzt melden
Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 18.10.2016

Redaktion Filmpuls 200 Artikel
Unter der Bezeichnung »Redaktion Filmpuls« erscheinen Beiträge, die von mehreren Redaktionsmitgliedern gemeinsam erstellt oder bearbeitet wurden.

1 Kommentar

  1. Hallo, toller Beitrag! Eine kleine Anmerkung zum letzten Absatz. Ihr Satz: „Das unbewusste Sein bestimmt unser Bewusstsein“ steht ja in keinem Widerspruch zu der Erkenntnis von Karl Marx und ist bezüglich dem Kino im Kopf auch nicht umgekehrt gültig. Letztlich ist das unbewusste Sein auch das Ergebnis unserer Widerspiegelung (wenn auch nicht immer der bewussten) der gesellschaftlichen und natürlichen Realität, in der wir uns als Individuum entwickeln.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Links zu Werbezwecken werden ausgefiltert.


*