»Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«: hinter den Kulissen der ersten Deutschen Netflix Doku-Serie

Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit: Neuland für deutsche Dokus | © gebrueder beetz Beetz Brothers
Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit: Neuland für deutsche Dokus | © Gebrueder Beetz

Erstmals läuft mit »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« seit Herbst eine deutsche Doku-Miniserie als Original auf Netflix. Produzent Christian Beetz berichtet in diesem Artikel exklusiv über Genese und Eigenheiten dieser Arbeit.

Es ist jetzt gut zwei Jahre her, dass eine E-Mail mit dem Betreff »Hi from Netflix« in meinem Postfach aufpingte:

From: Netflix Inc.
To: To whom it may concern
Subject: Hi from Netflix

I would like to get in touch with the Director of your production company. Could you please put us in contact.

Director, Original Documentary Programming, 5808 W. Sunset Blvd | Los Angeles, CA 9002.

Was auf den ersten Blick wie Spam wirkte, war tatsächlich ernst gemeint.

Eine deutsche Non-Fiction-Serie als »Original«

Eigentlich sind wir in unserer Welt immer in der Rolle des »Pitchenden« und nicht gewohnt aktiv angesprochen zu werden. Kurz nach diesem ersten E-Mail wurde telefoniert und uns erklärt, wie Netflix jetzt auch in Europa und konkret in Deutschland auftreten will.

Grundsätzlich gibt es zwei Kategorien: einmal ein »Regional Original«, also local content vordergründig für die einzelnen Länder und dann für den weltweiten Release. Und dann »Originals«, die von vorneherein für den aus 200 Millionen Subscribers bestehenden Weltmarkt gedacht sind. Nachdem Dark bereits 2017 als erstes deutsches Fiction Original international für Furore gesorgt hat, sollte nun endlich auch eine deutsche Non-Fiction-Serie als »Original« auf den Weg gebracht werden.

Trailer: »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« | © Netflix / YouTube

Rohwedder - Einigkeit und Mord und Freiheit | Offizieller Trailer | Netflix

Und so wurde in diesem sehr freundlichen Telefonat gleich Nägel mit Köpfen gemacht:

In zwei Wochen würde Netflix nach Berlin kommen und einige Produzenten treffen und da könnten auch wir konkrete Themen besprechen.

Dann wurde in einem Nebensatz die Latte noch schön hochgelegt: Die Produktion sollte sich mit den internationalen Non-Fiction-Hits Making a Murderer oder Wild Wild Country messen lassen und für viel Aufmerksamkeit sorgen – Klickzahlen waren erstmal überhaupt kein Thema. Für uns als Firma war das natürlich erst mal großartig, schließlich hatten wir jahrelang auf diesen Moment hingearbeitet.

Eine andere Nummer

Wir hatten schon 2011 mit der mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten sechsteiligen Serie Lebt wohl, Genossen! von Andrei Nekrasov mit dem horizontalen Erzählen experimentiert, später Crime-Dramaturgien in unser Kulturformat Die Kulturakte eingebaut und 2018, und zu dem Zeitpunkt des ersten Gesprächs mit Netflix, hatten wir bereits unsere erste True-Crime-Serie über den mysteriösen Todesfall des argentinischen Staatsanwaltes Nisman mit dem ZDF, Moviestar – und Netflix – in Arbeit.

Aber das war jetzt natürlich noch einmal eine andere Nummer.

Gemeinsam mit unserem Senior Producer Georg Tschurtschenthaler, mit dem ich zuletzt die Dokumentarfilme The Cleaners und Das Forum eng inhaltlich und dramaturgisch durchgeführt hatte, definierten wir erstmal den Rahmen für die nächsten Schritte: Wir wollten einen Stoff entwickeln, der sowohl in Deutschland als auch im Ausland funktionieren kann, der unterhaltsam wie relevant ist und den wir ganz im Sinne des Genres radikal anders erzählen können.

Rohwedder Netflix
© Foto: Netflix / gebrueder beetz
Ein perfektes Verbrechen

»Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«

Die vierteilige Doku-Reihe auf Netflix (Produktion: Gebrüder Beetz Filmproduktion) analysiert den Mord an dem Politiker Detlev Rohwedder im Jahr 1991 – ein ungelöstes Verbrechen, welches das wiedervereinigte Deutschland erschütterte.

Pressestimmen zu »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«:

  • FAZ – „Zwei Generationen nach der Wende ist das eine ebenso verführerische, lehrreiche wie düstere Geschichtsstunde.“
  • DIE ZEIT – „Rohwedder berührt große Fragen.“
  • Spiegel Online – „Vom Riss, der nie verheilte: Der Vierteiler „Rohwedder“ ist die erste deutsche Doku von Netflix. Im Stil einer True-Crime-Serie erzählt er von den Brüchen und Umbrüchen der deutschen Einheit – mitreißend, meinungsstark und gespenstisch!“

Etwas erschlagen von unseren Ansprüchen, aber außerordentlich euphorisiert stürzten wir uns in die Themenentwicklung und hatten nach einigen Runden drei Themen für das Treffen mit Netflix vorbereitet.

Potenzial für Dokumentarfilme und Doku-Serien

Netflix, ursprünglich als Arthouse-DVD-Verleih gegründet, versteht sich heute als weltweite Entertainment-Plattform. Im Gegensatz zu den Öffentlich-Rechtlichen Sendeanstalten – wo dokumentarische Formate ihre Heimat haben – hat Netflix keinen Bildungsauftrag, will hochwertig unterhalten und hat in den letzten Jahren entscheidend dazu beigetragen, die Welt des Dokumentarfilms komplett auf den Kopf zu stellen. So ist ein riesiger Buzz um den Dokumentarfilm entstanden, inklusive Millionen-Akquisitionen bspw. auf dem beim Sundance International Film Festival.

Neu dabei: Dass sich auch ein junges und vor allem breiteres Publikum für lange Dokumentarfilme und sogar für dokumentarische Serien begeistern lässt – wenn man eben anders erzählt.

Die regionale Expansion von Netflix ist vor dem Hintergrund des wachsenden, aber stark umkämpften Streaming-Marktes zu sehen. Häufig mit dem etwas martialischen Begriff Streaming-War umschrieben, drängen neue Player wie Disney+, Apple TV+, HBO Max, Hulu, aber auch deutsche Anbieter wie Joyn auf den Markt. Und da sind Non-Fiction Formate und eben regionaler Content ein wichtiges Element, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Deshalb war auch die Prämisse für das Treffen in unserem Berliner Büro, dass das möglichst aufsehenerregende Serienprojekt im Herbst 2020 gelauncht werden MUSS. Dementsprechend schwungvoll lief auch unser Treffen ab.

Ein Favorit – und ein Schreckmoment

Aus den drei Kurzpitches kristallisierte sich schnell ein Favorit heraus: Anhand des bis heute nicht aufgeklärten Mordes an Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder wollten wir die dunkle Seite der deutschen Wiedervereinigung erzählen, also die finsteren Monate und Jahre nach dem Mauerfall. Im Mittelpunkt dabei die Frage warum dieses Deutschland immer noch so zerrissen ist und nie wirklich zusammengewachsen ist.

Wem nützt dieser Mord? Wer hatte ein Motiv?
Christian Beetz

Nachdem ich mit meinem Bruder Reinhardt noch einmal bei Netflix in Los Angeles war, gab es schließlich grünes Licht das Thema weiterzuentwickeln, natürlich erstmal auf eigenes Risiko – Netflix zahlt keine Entwicklungsgelder.

Dann der erste Schreck: Neben der Vielzahl an guten Dokus über den Fall Rohwedder kündigte das ZDF öffentlichkeitswirksam eine aufwendige fiktionale Aufarbeitung des Themas an, inklusive Begleitdoku. Die Antwort von Netflix war kurz und knapp: Das interessiert uns nicht. Wir sind Netflix und wir erzählen anders als die Öffentlich-Rechtlichen.

Soviel Selbstbewusstsein und Vertrauen war für uns ungewöhnlich und überraschend. Sonst wird immer als Erstes auf das »Thema« geschaut und dieses dann als Grundlage der Beurteilung begutachtet. Undenkbar, dass man sich eines Themas öfter und in verschiedenen Varianten annimmt. Bei Netflix steht das Storytelling, das WIE eine Geschichte erzählt wird, im Zentrum.

Von links nach rechts: Christian Beetz (Produzent, Autor),  Georg Tschurtschenthaler (Producer, Headwriter, Showrunner und Regisseur) und Jan Peter (Regie) | © Fotos: gebrueder beetz

Die Herausforderung: True Crime Made in Germany

In der inhaltlichen Entwicklung standen wir vor der großen Herausforderung, die zwei eigentlich sehr diametral funktionierenden Erzählebenen zusammenzuführen: einmal eine spannende True-Crime-Geschichte mit unerwarteten Wendungen und Ciffhangern. Und dann die historisch-politische Ebene der vielschichtigen Wiedervereinigungsgeschichte, das alles ohne Erzählerstimme und Erklärgrafiken und für ein junges, auch internationales Publikum, für das Rohwedder eine Hunderasse und die RAF eine Hiphop Band ist.

Besonders die erste Erzählebene, die Crime-Geschichte, bereitete uns dabei zunehmend Kopfzerbrechen. Im Unterschied zu den amerikanischen Vorbildern steht das True-Crime-Genre in Deutschland auf dünnen Beinchen: Gerichtsprozesse werden nicht aufgezeichnet, ebenso wenig wie parlamentarische Untersuchungsausschüsse.

»True Crime Made in Germany« funktioniert anders.
Christian Beetz

Zudem sind die Generalbundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt sehr restriktiv in der Zusammenarbeit, auch das ist ein großer Unterschied zu den USA. Öffentlich zugängliche Tatortfotos – Fehlanzeige; Interviewpartner müssen von den jeweiligen Pressestellen freigegeben werden, schleppende Bearbeitung der Anfragen inklusive. Zudem handelt es sich beim Rohwedder-Fall um ein laufendes Verfahren. Unserer Klage auf Akteneinsicht wurde nicht stattgegeben.

Das Rashomon-Prinzip als Lösung für »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«

Uns fehlten also die klassischen Genrezutaten, aus den Vorrecherchen ergaben sich auch keine klaren Hauptfiguren, die die Erzählung vorantreiben würden. Also mussten wir wohl oder übel eine ganz eigene Erzählform finden. Und wir wählten dafür das Rashomon-Prinzip, in dem wir die Geschichte des Rohwedder-Mordes von verschiedenen Beteiligten aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen lassen.

Zentrales dramaturgisches Element war dabei DIE Ermittlerfrage schlechthin: Wem nützt der Mord, wer hatte ein Motiv?

+++ Breaking News +++
Rohwedder« wurde am 2. März 2021 für den renommierten Grimme-Preis nominiert. Die Preisverleihung findet am 27. August 2021 statt.

Zudem gab uns dieses Erzählprinzip die Möglichkeit, dass wir Rohwedder aus unterschiedlichen Blickwinkeln und damit mit unterschiedlichen Facetten erzählen konnten: als Märtyrer, Kapitalist, Besatzer und Opfer. Diese Blicke auf Rohwedder übernahmen wir schließlich auch als Episodentitel, um diesen multiperspektivischen Erzählansatz noch zentraler in der Serie zu verankern. So konnten wir das enge Korsett des chronologisch-kausalen Erzählens verlassen und spielerisch Denkräume um die dunkle Seite der Wiedervereinigung aufmachen, bis tief in die komplizierte deutsche Seele hinein.

»Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«: Finanzen, Talente und Marktwert

Während dieser intensiven Recherchen und Arbeiten an den Treatments für »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« hatten wir zentrale inhaltliche Probleme gelöst, andere geschickt umschifft, aber auch viel Geld und Arbeit investiert, alles auf eigenes Risiko und ohne finale Zusage. Im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichen Sendern zahlt Netflix keine Entwicklungskosten. Nachdem wir uns im November 2018 auf eine fünfteilige Serie geeinigt hatten, ging es nun um die Finanzen – ein nicht ganz unwichtiger Punkt.

Jedoch auch hier verliefen viele Dinge komplett anders, als ich das in über 20 Produzentenjahren gewohnt bin.

Selfie nach dem Meeting in Los Angeles bei Netflix: Christian Beetz und Reinhardt Beetz (rechts im Bild) | © Foto: gebrueder beetz

Christian Beetz und Reinhardt Beetz (rechts im Bild) | © Foto: gebrueder geetz

Man spürt in jedem Moment, dass bei Netflix »Talent« eine zentrale Rolle spielt, und es sollte erst einmal alles nach unserer Vision mit deutschen Tarifen kalkuliert werden. Im ersten Schritt konzentrierten wir uns auf »below the line«, alle auflaufenden Kosten der Umsetzung. Das kreative Team, die Talente, sollten zu einem späteren Zeitpunkt als »above the line« besprochen werden.

Auch das ist höchst ungewohnt, da es beim Dokumentarfilm und der Dokuserie ansonsten praktisch keine Auftragsproduktionen mehr gibt – sprich: Es interessiert kaum jemanden, was das ganze kostet, da der Sender sich nur mit einer Pauschale beteiligt und der Rest der Finanzierung am Produzenten hängt.

Das andere Novum ist, dass man Talente individuell betrachtet und einen gewissen Marktwert mit in die Betrachtung einbezieht. Gewohnt sind wir, dass nahezu alle AutorInnen, ProducerInnen und RegisseurInnen beim Sender gleichbehandelt werden, egal ob blutiger Anfänger oder gestandener Profi.

Inhalt = grünes Licht; Budget nach einigen Abstimmungsrunden = grünes Licht. Im März 2019 hieß es schließlich, wir gehen in Produktion. Allerdings nicht ohne freundliche Erinnerung von Netflix, dass die Serie im Herbst 2020 veröffentlicht werden MUSS!

Doku trifft Fiktion: das Beste beider Welten

Wir hatten uns in der Entwicklung des Projektes für einen Genre-Mix entschieden und wollten das »Beste beider Welten« organisch zusammen bringen: eine reale, dokumentarische Geschichte, Dramaturgien aus dem horizontalen, seriellen Erzählen, Archiv trifft auf spielfilmhafte Inszenierungen, auch die Interviews wurden hochwertig und spielfilmhaft gedreht, um im Schnitt die für das True-Crime-Genre notwendige atmosphärische Dichte erzeugen zu können.

Wir müssen in Deutschland mit unserer erzählerischen Tradition eine eigene Form finden.
Christian Beetz

Georg Tschurtschenthaler agierte als Producer und Headautor und entwickelte sich dabei in dieser Phase vom Showrunner zum Regisseur. Unter seiner Führung haben wir auch das Kernteam zusammen gestellt: allen voran den Regisseur Jan Peter, der in seinen dokumentarischen Dramaserien 14 – Tagebücher des 1. Weltkrieges und Krieg der Träume aufwendige visuelle Welten geschaffen hat und damit die idealen Voraussetzungen für die Konzeption und Umsetzung der Spielszenen mitbrachte.

Gemeinsam mit Kameramann Jürgen Rehberg entwickelte er einen konsequenten visuellen Stil für die Interviews und fiktionalen Szenen.

Die Entscheidung, sämtliche Interviews an unterschiedlichen Orten im Haus des Rundfunks zu drehen, erwies sich schlussendlich als goldrichtig und hat geholfen, der Serie einen konsequenten, hochwertigen Look zu geben und den Zuschauern eine Interviewreise durch deutsche Wohnzimmer und Bücherwände zu ersparen.

Der Dreh von »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« erwies sich als massives Unterfangen, mit Interviews und nachgestellten Spielszenen, um den Zuschauer mitten in die Handlung zu versetzen | © Fotos: gebrueder beetz

Früh ins Projekt geholt hatten wir auch den Drehbuchautor Martin Behnke, der die Entwicklung und Produktion als Dramaturg begleitet hat. Er hatte bereits einige Folgen für Dark geschrieben und war damit mit modernen, seriellen Erzählweisen bestens vertraut.

Parallel zum Dreh haben wir immer wieder – ganz nach dem Vorbild klassischer Writers Rooms – in kreativen Roundtables zusammengesessen und die Struktur der Reihe auf die Realität der Recherche und der Interviewdrehs angepasst. Besonders spannend war es dabei, dass in vielerlei Hinsicht das Archivmaterial die Erzählung vorgegeben hat – wollten wir doch Rohwedder, als Hauptfigur der Reihe, ausschließlich aus dem Archiv erzählen.

Noch während der aufwendigen fiktionalen Dreharbeiten im Dezember begannen wir mit dem Schnitt. Kurze Erinnerung: der Serie MUSS im Herbst 2020 gelauncht werden…

Die Postproduktion von »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« und – ja leider – Corona

Der Schnitt ist bei einer dokumentarischen Serie eine große Herausforderung, da er extrem dynamisch ist. Das mögliche Erzählen hängt von sehr vielen Faktoren ab, die sich ständig im Fluss befinden und laufend verändern: Ein neues Interview kann die gesamte Struktur der Erzählung über den Haufen werfen. Dies ist ein großer Unterschied zum rein fiktionalen erzählen.

Auch hier wollten wir entsprechend der Grundidee der Reihe wieder das Beste beider Welten zusammen bringen: André Nier stürzte sich als erfahrener Doku-Editor auf die gewaltigen Archiv- und Interviewmengen; und David Gesslbauer, der zuletzt das Rammstein-Video Deutschland virtuos montiert hatte, widmete sich den von Jan Peter geschriebenen und inszenierten Folgenintros – eine Hauptgrundlage für das Rashomon-Erzählprinzip. Im Februar 2020 stieß schließlich noch Philip Gromov zum Schnittteam.

Überraschend im positiven Sinne war der inhaltliche Freiraum im Schnitt.
Christian Beetz

Als Philip Ende Februar zu einem ersten Kurzurlaub zu seiner Familie nach St. Petersburg aufbrechen wollte, haben wir ihm vorsichtshalber noch eine gespiegelte Festplatte des gesamten Materials mitgegeben. Kurze Zeit später trat der Lockdown in Kraft und dann fanden wir uns in unseren Wohnungen wieder.

Zum Glück hatten wir schon 2019 die interne Postproduktion auf serverbasierte Prozesse umgestellt, sodass wir schnell ins Remote Editing einsteigen konnten und uns zwischen Home-Schooling, überlasteten WLAN-Netzen und langen Zooms durch den Schnitt kämpften.

Nicht die Anzahl Folgen, die Qualität entscheidet

Ungewohnt und im positiven Sinne überraschend war der inhaltliche Freiraum im Schnitt, v.a. in Bezug auf die Längen der Folgen. Es geht nicht um Sendeminuten oder Folgenanzahl, es geht um das bestmögliche Werk. Vor diesem Hintergrund haben wir auch den Impuls von Netflix aufgenommen und nach ersten Schnittfassungen die Serie um eine Folge reduziert, um die Balance zwischen Crime & History nicht zu verlieren.

Nun folgten mehrstufige Abnahmeprozesse, vom Regie-Cut von Schnittfassung eins über den Showrunner-Cut für Schnittfassung zwei und drei bis zum Produzenten-Cut für die finale Abnahme bei Netflix, alles wie immer getragen von einer großen Teamarbeit und im Hinblick auf die Vision der Serie.

Zweiwöchentliche Gespräche mit sämtlichen Ansprechpartnern – von Legal bis zur Postproduktion, monatlicher Cash-Flow und eine strenge Qualitätskontrolle der Postproduktion gaben einen strengen, aber produktiven und hochwertigen Rahmen für die Fertigstellung der Serie.

Und schlussendlich haben wir es trotz aller Unwägbarkeiten, Konflikte und kleineren und größeren Katastrophen pünktlich geschafft: Picture Lock der Serie nach 14-monatiger Produktionszeit im Mai 2020 und Fertigstellung der Postproduktion zwei Monate später im Juli.

»Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«

Am 25. September 2020 ist die Serie unter dem Titel Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit oder international A Perfect Crime nun für die 200 Millionen Netflix-Abonnenten veröffentlicht worden.

Nach dem starken Presseecho und der riesigen Aufmerksamkeit für die Serie (auch hier: Auftrag erfüllt) ist sie auch gleich hoch in die Netflix-Tagescharts eingestiegen.

Jetzt sind wir jetzt sehr gespannt, wie dieser finstere und ungewöhnliche Blick auf Deutschland national und international vom Netflix-Publikum weiter aufgenommen wird.

Eine Auszeichnung hat die Serie schon. Auf dem Series Festival Berlin wurde Rohwedder von der Jury u. a. vom zweifachen Oscar-Preisträger Nick Vallelonga (Green Book) und dem Journalisten und Produzenten Gero von Boehm mit dem »Best Documentaries Series Award 2020« ausgezeichnet.

Die Netflix-Serie »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« wird auf dem TV-Serienfestival Berlin als „Beste Dokumentarserie 2020″ ausgezeichnet. | ©  Gebrueder Beetz Filmproduktion / YouTube

German Netflix Original A PERFECT CRIME "Best Documentary Series 2020“ produced by Gebrueder Beetz

Für mich gilt folgendes Fazit

Ich glaube, dass »True Crime Made in Germany« anders funktioniert als die großen, mächtigen US-Vorbilder.

Wir müssen mit unserer Geschichte, aber auch mit unserer erzählerischen Tradition eine ganz eigene Form finden, um nicht im Einheitsbrei des boomenden True-Crime-Genres unterzugehen. Schließlich war es ja auch der große Edgar Reitz, der mit seiner Heimat-Trilogie vor knapp 40 Jahren das moderne serielle Erzählen geprägt, wenn nicht sogar erfunden hat. Mit einer Geschichte aus der deutschen Provinz.

Was wir dabei nicht vergessen dürfen: Qualität kostet. High-End-Doku-Serien made in Germany können genauso ein großes internationales Publikum erreichen, wie ihre fiktionalen Pendants, wenn auch hier bei Sendern und Förderern die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden.

Das zögerliche Öffnen des GMPFs (German Motion Picture Fund, ein eigenständiges Filmförderungsprogramm auf Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Anm.d.Red.) für dokumentarische Serie ist ein erster wichtiger Schritt, um auch hier international in der Spitze mitspielen zu können.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Printausgabe von Blickpunkt:Film. Die erstmalige Online-Publikation bei filmpuls.info erfolgt mit freundlicher Genehmigung der gebrueder beetz filmproduktion. Überschriften und Struktur des Beitrags wurden an die Erfordernisse eines digitalen Mediums adaptiert.

Mehr zu »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«

Werkstattgespräch zu »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit«; Aufzeichnung vom 27. Oktober 2020  Mit im Video: Produzent und Autor Christian Beetz, Autor und Showrunner Georg Tschurtschenthaler sowie Regisseur Jan Peter. Moderation: Stephan Ottenbruch, DAfF.

Werkstattgespräch »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« | © DAfF – Deutsche Akademie für Fernsehen e. V. / YouTube

Werkstattgespräch - Rohwedder - Einigkeit und Mord und Freiheit

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 11.02.2021

Christian Beetz 1 Artikel
Christian Beetz ist ein deutscher Filmproduzent, Regisseur, Dozent, mehrfacher Grimme-Preisträger und Geschäftsführer von gebrueder beetz filmproduktion. Mit »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« legt seine Produktionsfirma die erste Original-Dokuserie aus Deutschland für Netflix vor.

1 Kommentar

  1. Sehr informativer Artikel, danke, lieber Christian. Im Sinn der „Wahrheitsfindung“ hat die Serie allerdings nichts Neues beisteuern können. Wären dazu eigene Recherchen im Umfeld nicht notwendiger gewesen? An Deinem Enthusiasmus für „die Sache“ erfreue ich mich immer wieder! Gerd

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