Kamerafahrten im Film in Theorie und Praxis (Teil 3): Arten und Anwendung

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Gewusst, wie: der Einsatz von Kamerafahrten in Film und Video | © Illustration: Pavel Sokolov

Wenn eine Kamera ihren Standort während einer Einstellung verlässt, so spricht man von einer Kamerafahrt. Fahrten der Filmkamera enthalten also stets das Verlassen des Ausgangspunkts. Das hat Folgen! Dieser Artikel erklärt, wie Standpunktänderungen der Aufnahmeeinheit das Storytelling maximieren können.

Fahrten mit der Kamera sind in nahezu jedem Film zu finden. Vorab zu ihrer Planung und Umsetzung auf dem Filmset stellen sich drei Grundsatzfragen. Sie entscheiden darüber, ob Kamerafahrten für die Story und damit für den Zuschauer eines Videos einen Sinn – und damit einen Mehrwert ergeben:

  • Warum Bewegung
  • Wie wird bewegt
  • Start / Ende

Grafik 1: die drei wichtigsten Fragen bei jeder Kamerafahrt

Kamerafahrten stellen Regisseur und Cutter im Schnitt vor besondere Herausforderungen. Abhängig von Tempo und Art der Bewegung lässt sich eine Fahrt mühelos oder kaum in eine Szene aus statischen Einstellungen einpassen. Entsprechend wichtig ist die Planung der fraglichen Sequenzen mit Storyboard und Shotlist.

Definition der Kamerafahrt

Eine Bewegung der Kamera durch den Raum wird als Fahrt bezeichnet. Die Blickrichtung wird dabei beibehalten.

Ob in Fahrtrichtung, rückwärts oder quer zur Bewegung, die Kamerafahrt darf, solange sie dramaturgisch motiviert ist, in alle Richtungen gehen. Trotzdem sind Fahrten als Vorwärtsbewegung oder Rückwärtsbewegung am häufigsten.

Kamerafahrten werden in fünf Kategorien unterteilt:

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Vorwärtsfahrt und Rückwärtsfahrt

Seit Hitchcock in Vertigo auf geniale Weise den Zoom – der nicht zu den Kamerafahrten zählt und keine Fahrt ist, weil hier keine Veränderung der Bildperspektive erfolgt – mit einer gegenläufigen Fahrt verknüpft hat, weiß auch der Film-liebende Laie: Die vorwärts und rückwärts fahrende Kamera kann eine Filmszene entscheidend prägen.

Kennzeichen der Vorwärtsfahrt und Rückwärtsfahrt

  • Raumgefühl und Emotionen:

    Zu Beginn von Szenen führt die eine Kamerafahrt vorwärts den Zuschauer räumlich und emotional näher an die Hauptperson in einer Filmhandlung.

  • Abstand gewinnen:

    Rückwärts verlaufende Fahrten geben dem Zuschauer umgekehrt das Gefühl einer wachsenden Distanz.

  • Fahrtlänge:

    Um neue Bildeindrücke zu filmen, muss eine Fahrt nicht episch sein. Auch eine kurze, subtile Kamerafahrt erlaubt dem Zuschauer, neue Bildinformationen zu entdecken, indem zuvor versteckte Dinge ins Blickfeld rücken.

  • Begleitung:

    Die Motivation von Fahraufnahmen liegt mehrheitlich darin, dass sie die Charaktere begleitet.

Fahrten vorwärts und rückwärts erfolgen in der Regel mittels Dolly, Drohnen oder ab Fahrzeugen.

Dolly sind mobile Schienenwagen, die sich auf Schienen bewegen. Kamerakran, Slider oder die sog. Steadicam, bei der die Kamera am Kameramann befestigt und dank ausgeklügelten Stabilisierungssystemen – nahezu wie eine Handkamera – äußerst mobil gehandhabt werden kann, geben dem Filmemacher nahezu unbegrenzte Bewegungsfreiheit.

Kamerafahrt: Dreharbeiten für VW Touareg | © filmpuls.info

Kamerafahrt: Dreharbeiten mit Camera-Car

Für Fahraufnahmen ab Fahrzeugen wird das Kameraequipment auf einem Rigg montiert, meist gemeinsam mit Lichtquellen. Das Fahrzeug selbst sitzt in der Regel auf einem Anhänger (Trailer), den ein Zugfahrzeug bewegt. Dies, damit die Schauspieler sich auf ihr Spiel und nicht auf das Lenken konzentrieren können.

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Langsame Fahrt

Menschen stehen in Realität selten über Minuten unbeweglich am selben Standort. Sie bewegen durch den Raum und blicken dabei bewusst oder unbewusst in unterschiedliche Richtungen. Langsame Fahrten – kombiniert mit einem suchenden Schwenk – imitieren dieses Verhaltensmuster.

Kennzeichen langsamer Kamerafahrten

  • Neugierde:

    Die langsame Fahrt weckt durch das gedrosselte Tempo der Bewegung die Neugierde des Publikums auf das, was kommt.

  • Verzögerung:

    Dramaturgisch wird sie oft gezielt zur Verzögerung (sog. Retardierung) eingesetzt.

  • Verankerung:

    Wie beim Schwenk kann eine langsame Fahrt Gefühle und Stimmungen vertiefen.

  • Identifikation:

    Die langsame Fahrt verstärkt die Identifikation mit den Filmfiguren.

Interessanterweise gilt die schnelle Fahrt nicht als eigene Kategorie. Sie wird von Kameraleuten als Unterkategorie der Vorwärtsfahrt oder Rückwärtsfahrt betrachtet.

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Umfahrt

Bei der Kamera-Umfahrt bewegt sich die Kamera kreisförmig um ein Objekt herum. Umfahrten werden aus Gründen der Bildstabilität nur selten aus der Hand gedreht. Weil sie in der Umsetzung mit Dolly zeitaufwendig ist, werden sie womöglich mit Steadycam realisiert.

Kennzeichen der Umfahrt

  • Kombination:

    Wie bei der langsamen Fahrt werden Umfahrten häufig mit Fahraufnahmen und Schwenks verbunden.

  • Technik:

    Technisch umgesetzt wird diese Art der Kamerafahrt mithilfe von Schienen, Steadycam, Drohne oder ab Schulterkamera.

  • Bildebenen:

    Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund verschieben sich bei der Umfahrt unverkennbar.

  • Präsenz:

    Umfahrten erzeugen beim Zuschauer die Illusion, am Ort der Handlung und damit direkt im Film zu sein.

  • Kontext:

    Der Umfahrt besitzt einer Inszenierung immer auch einen erklärenden Charakter. Sie setzt Dinge in einen Zusammenhang.

  • Verstärkung der Gefühle:

    Umfahrten wirken in emotionalen Szenen stark dramatisierend.

Eine spezielle Form der fahrenden Kamera ist die 360-Umfahrt. Sie wird mit Dolly oder Steadycam gedreht. Dabei blickt das Kameraauge stets ins Bildzentrum, während die Kamera in einem geschlossenen Schienenkreis einmal oder mehrfach eine Person umrundet.

Der deutsche Kameramann Michael Ballhaus ASC (u. a. Outbreak, Air Force One, Die Farbe des Geldes) setzte das erzählerische Stilmittel der Kreisfahrt erstmals prominent ein und wurde damit weltbekannt.

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Kranfahrt

Die Kranfahrt wird in der englischen Sprache als Elevator Shots bezeichnet. Dies darum, weil bei einer Fahrt mit dem Kran die Kamera oftmals in die Höhe steigt oder in die Tiefe sinkt.

Kennzeichen der Kranfahrt

  • Überblick:

    Kranfahrten öffnen das Blickfeld oder verengen es. Sie gleichen damit in ihrer Wirkung einem Umschnitt von einer halbnahen auf eine totale Einstellung oder eine Supertotale.

  • Spannung:

    Fahrten mit dem Kran werden oft als Plansequenz eingesetzt. Mit großer Sorgfalt und hoher Perfektion inszeniert, erzeugen sie beim Zuschauer maximale Spannung.

  • Panorama:

    Die wohl typischste Anwendungsart – wenn auch wenig originell – sind Landschaftsaufnahmen.

  • Irritation:

    Unmotivierte vertikale Kranbewegungen, im Spielfilm als „Fahrstuhleffekt“ bezeichnet, irritieren den Zuschauer.

Kranfahrten werden auf zwei Arten umgesetzt: entweder werden Kran und Kamerakopf vom Kameramann ab dem Boden ferngesteuert oder der Kameramann sitzt mitsamt der Kamera auf einer Plattform, die vom Kran vertikal und horizontal bewegt werden kann.

Kranfahrten erfordern Spezial-Equipment. Die Kosten dafür müssen im Produktionsbudget vorgesehen werden, gemeinsam mit der Verpflichtung von spezialisierten Fachkräften für Aufbau und Bedienung des Krans.

Der Aktionsradius von Filmkränen, wie sie Hollywood einsetzt, kann über fünf Höhenmeter betragen. Kippt ein tonnenschwerer Kran, kann das – wie etliche Todesfälle belegen – fatale Folgen haben.

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Seilkamera / Slider Cam

Zu den eher exotischen Bewegungs-Systemen gehört die Seilkamera, auch bekannt als Slider Cam. Bei dieser Anwendungsart fliegt die Kamera, ferngesteuert und angetrieben durch einen Motor an einem aufgespannten Seil über die Szenerie. Oder mitten hindurch.

Kennzeichen der Seilkamera / Slider Cam

  • Fahrweg:

    Die Bewegung der Seilkamera wird durch Länge und Anbringung des Fahrseils begrenzt.

  • Remote Control:

    Der Kamerakopf lässt sich mit Remote Control in der Regel in jede gewünschte Richtung schwenken.

  • Kameraobjektive:

    Bei Seilfahrten wird in der Regel mit Weitwinkel-Objektiven gearbeitet, damit die Bewegungen fließender und flüssiger wirken.

  • Einsatzgebiet:

    Slider Cams werden weit häufiger bei TV-Produktionen und Live-Übertragungen oder Stadion TV eingesetzt, als bei Kinofilmen und Imageproduktionen.

Seilkameras haben bedingt durch die Entwicklung der Drohnen viel von ihrer Attraktivität einbüßen müssen. Verwendet werden sie aber nach wie vor dort, wo die Sicherheit an oberster Stelle steht. Etwa Freiluft-Events oder Veranstaltungen in Innenräumen und Hallen. Das Risiko eines Seilrisses ist ungleich kleiner als die Chance, dass eine Kameradrohne eine Menschengruppe stürzt.

Kamerafahrt mit Slider | © arktis.de / YouTube

Top 5 Slider Kamerafahrten | Filmlook Tipps & Tricks Video Tutorial

Stabilisation der Aufnahmeeinheit

Auch wenn Bewegungen in der Bildbearbeitung – meist aufwendig – nachträglich digital stabilisiert werden können: Eine der größten Herausforderungen bei Dreharbeiten ist nebst der inhaltlichen Motivation der Kamerabewegung die technische Stabilisierung der Fahraufnahmen.

Wackelt die Aufnahmeeinheit bei der Kamerafahrt, stört das den Zuschauer empfindlich und lenkt ihn vom Inhalt ab. Darum existieren im professionellen Filmschaffen unterschiedliche, technisch hochkomplexe Systeme, die bei einer Kamerafahrt zum Einsatz kommen.

Die entfesselte Kamera

Bis um 1920 waren Filmkameras an schwere Stative gebunden. Als Folge der erstmals aus Flugzeugen erfolgenden Frontaufklärung im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges entstanden die ersten handlichen Filmkameras. Die filmische Avantgarde nutze diese, um die Bewegungen der Kamera von ihren technischen Fesseln zu befreien. In den Zwanzigerjahren wurde der Begriff der „entfesselten Kamera“ geprägt, die hundert Jahre später mit Actioncams im Extremsport ihre Rückkehr feiert.

Der französische Filmpionier Abel Gance ließ 1923 erstmals eine Kamera für seinen Film „Napoleon“ an einem Pferd befestigen. Im Jahr darauf montierte der deutsche Kameramann Karl Freund für „Der letzte Mann“ eine Handkamera von ARRI an seine Brust und mischte sich für eine Tanzszene damit unter die tanzende Paare. Die subjektive Wahrnehmung des Zuschauers wurde so der Subjektivität des kontrollierten Zufalls gegenübergestellt. Zur selben Zeit versuchten französische Filmpioniere, mit einer durch die Luft auf den Hauptdarsteller geworfenen Handkamera die Perspektive einer Schneeflocke in einem Spielfilm wiederzugeben.

Abgrenzung der Kreisfahrt zu Bullet Time

Was wie eine Fahrt aussieht, ist beim Bullet Time Effekt eine Serie von Einzelbildern, die gleichzeitig aus unterschiedlichen Perspektiven als Fotos aufgenommen wurden.

Abgrenzung zu Drohnenaufnahmen

Kameradrohnen bewegen sich im dreidimensionalen Raum ohne Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Kamerafahrten sind gebunden an die Schienen für den Dolly oder an den Radius des Krans oder bei der Slider Cam an die Länge des Tragseils.

Fazit zur Kamerafahrt

Das musst du über Kamerafahrten wissen

  • Bei Standortverschiebungen der laufenden Filmkamera unterscheidet man zwischen Vorwärtsbewegung, Rückwärtsbewegung und Seitwärtsbewegungen.
  • Kamerafahrten sind Bewegungen, die sich von der Schulterkamera durch ihre Laufruhe unterscheiden. Der schwebende Effekt wird möglich durch Schienen, Slider, Steadycam oder einen Gimbal.
  • Solange dramaturgisch motiviert, ist eine Kamerafahrt in alle Richtungen zulässig.
  • Die wichtigsten Arten der Kamerafahrt sind die langsame Fahrt, die Umfahrt, die Kreisfahrt und die Kranfahrt.

Mehr zur Filmgestaltung

Artikel-Serie Filmsprache:
  • Teil 1 der Beitragsreihe über professionelle Kameraarbeit enthält als Einführung grundsätzliche Informationen zu Kategorien und Arten von Kamerabewegungen und Erläuterungen zum korrekten Einsatz dieses Instruments.
  • Artikel 2 der Serie beschäftigt sich ausschließlich mit Informationen und Details zum Schwenken der Filmkamera.
  • Beitrag 3 – der vorliegende Artikel – erklärt als Beitrag die Besonderheiten und Unterschiede bei der Anwendung von Kamerafahrten in Film und Video.
  • Kapitel 4 zeigt auf, nach welchen grundsätzlichen Regeln die Kameraführung als Teil der Filmsprache erfolgen sollte.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 21.06.2016

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