Jeder, der beruflich und über einen längeren Zeitraum mit der Unterhaltungsindustrie zu tun hat, weiß: Erfolg verbirgt viele Sünden. Aber er macht sie nicht ungeschehen, wie Harvey Hollywood diese Tage lernen muss. Dennoch: Was man über den verdammt erfolgreichen und ebenso abscheulichen Filmmogul Harvey Hollywood lesen und hören konnte, dürfte weder das Ende der ganzen Geschichte sein, noch ist es zu Ende gedacht.
Um transparent zu sein: Ich habe ihn nie persönlich getroffen. Einmal rief mich er mich an. Es wollte sich nach den Rechten an einem Spielfilmprojekt erkundigen. Meine Assistentin nahm den Anruf in ihrer ersten Arbeitswoche entgegen. «Ein Herr Mira Max aus New York will dich sprechen», sagte sie. Ein anderes Mal hat ein Berufskollege von mir mit Harvey Hollywoods Firma einen Film produziert. Er wurde dabei von Harvey himself dermaßen unter Druck gesetzt, dass er während der Produktion 15 Kilogramm Körpergewicht verloren hat.
Im Leben wie im Spielfilm: Harvey Hollywood
Die Geschichten, die ich über die Zusammenarbeit mit Harvey Hollywood erzählt bekam, waren wie die Spielfilme in Cannes und Montreal, in die der Dicke seine Würstchenfinger gesteckt hatte: unglaublich einzigartig. Jede einzelne Geschichte über ihn war so durchgeknallt, dass sie aus einem Drehbuch von Tarantino hätte stammen können. Mit dem, was heute über Harvey Hollywood als Manager im Filmbusiness bekannt ist, darf man nicht länger hoffen, dass der Kerl bei seiner verwerflichen Suche nach sexueller Erfüllung nicht so tobte, wie er es an Besprechungen offenbar regelmäßig getan hat.
Ein Sündenpfuhl und Sinnbild fleischlicher Gelüste, diese Filmindustrie! Wir haben es heimlich geahnt. Wo Geld und schöne Frauen zum Geschäftsmodell gehören, kann es nicht ohne Schweinereien abgehen! Die Welt schreit auf.
Nicht zum ersten Mal.
Call me Fatty!
Roscoe Arbuckle war 1921 in Hollywood einer der größten Stars seiner Zeit. Er hasste seinen Spitznamen, Fatty (deutsch: Dickerchen), was ihn aber nicht davon abhielt, diesen als Künstlernamen zu verwenden und weltweit zu seinem Markenzeichen zu machen. Fatty war der erste Schauspieler in der Geschichte des Films, der mehr als eine Million Dollar pro Jahr verdiente.
Im September 1921 erkrankte während einer Party in der Hotelsuite von Arbuckle die ebenso junge wie hübsche angehende Schauspielerin Virgina Rappe. Der herbeigerufene Arzt erkannte übermäßigen Alkoholgenuss als Ursache für das Unwohlsein der jungen Frau. Sie wurde in ein separates Hotelzimmer gebracht, während die Party weiterging.
Drei Tage später starb die Jungschauspielerin an einer Bauchfellentzündung infolge eines Blasenrisses.
Arbuckle behauptete, die attraktive junge Frau im Badezimmer seiner Suite vorgefunden zu haben. Dorthin hätte sie sich wegen Unwohlseins zurückgezogen und ihn zu Hilfe gerufen, worauf er sie ins Bett gebracht habe.
Matthew Brady, Bezirksstaatsanwalt, brachte den Weltstar wegen versuchter Vergewaltigung und Mord vor Gericht. Er war zum Schluss gekommen, die inneren Verletzung würden von einer Sektflasche oder einer Flasche Coca-Cola stammen.
Die Autopsie von Rappe konnte seine Anschuldigungen weder widerlegen noch belegen. Nach drei chaotischen Prozessen wurde Arbuckle freigesprochen.
Überall in den USA formierten sich nun Gruppen, die ihn auf den elektrischen Stuhl bringen wollte. Die Studios distanzierten sich von ihrem einstigen Goldesel und verboten den bei ihnen unter Vertrag stehenden Stars, weiter mit Fatty Arbuckle Kontakt zu halten. Das erinnert an Harvey Hollywood.
Einzig Buster Keaton nannte seinen Freund Arbuckle, dessen Karriere mit dem Skandal schlagartig vorbei war, weiterhin und öffentlich „einen der anständigsten Menschen, den ich kenne.“
Im selben Jahrzehnt schwängerte der unübertroffen geniale 33-jährige Stummfilm-Star Charles Charlie Chaplin die erst fünfzehnjährige Lita Grey in der Sauna seiner Villa.
The Kids
Die Jungschauspielerin, die mit richtigem Namen Lillita Louise MacMurray hieß, kam dank ihrer Rolle in „The Kid“ an der Seite von Charlie Chaplin zu einem Künstlernamen und als Starlet zu Weltruhm. In ihren 1966 erschienen Memoiren schrieb Lillita MacMurray: «Er legte sich auf mich und bedeckte meinen Hals mit Küssen.»
Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen und um seine Weltkarriere heiratete Chaplin 1927 das Mädchen. Dies auf Rat seiner Anwälte, obwohl die beiden sich mittlerweile längst heillos zerstritten hatten.
Wenig später klagte die Schauspielerin auf Scheidung. Die Boulevardpresse erzielte neue Rekordauflagen, weil Grey im Prozess zu Protokoll gab, nebst zahllosen Affären parallel zu ihrer Ehe habe der Darsteller des Tramp von ihr im Schlafzimmer nur Dinge gefordert, die «allesamt unnatürlich, pervers, entartet und schamlos» gewesen seien.
Weitere Details verhinderten die Anwälte mit einer Zahlung von 600’000 Dollar (entspricht heute einer Summe von über 8 Millionen!) gekoppelt an eine Stillschweige-Vereinbarung.
Die Geburt von Charles Junior wurde der Öffentlichkeit erst viel später und mit einem falschen Datum kommuniziert. Dies, damit die Zeugung zumindest theoretisch während der Ehe hätte erfolgen können.
Dasselbe Prozedere hatte Charlie Chaplin schon einmal 1918 durchlaufen.
Damals hatte er die ebenfalls minderjährige Mildred Harris geschwängert und darum heiraten müssen.
1944 dominierte der Komiker, Regisseur, Drehbuchautor, Schnittmeister, Komponist und Filmproduzent erneut die weltweite Presse mit unappetitlichen Details.
In einem Vaterschaftsprozess nannte der Anwalt der Klägerin Joan Barry den einstigen Stummfilm-Star öffentlich einen «geilen Köter». Er forderte im Namen aller amerikanischen Ehefrauen und Mütter, dass das Gericht dem Star «in seinem lüsternen Benehmen endlich Einhalt gebiete».
1972 erhielt Chaplin für sein Lebenswerk einen Academy-Award©.
Marylin, Harvey Hollywood und Woody
Marilyn Monroe erzählte in einem Interview der Presse, was die Bosse in den Studios im Austausch für eine Rolle erwarteten. «Es ist der einzige Weg, direkt an die wirklich wichtigen Leute heranzukommen», erklärte die damals schönste Frau der Welt.
Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert. Was haben wir in der Zwischenzeit gelernt? Woody Allen, der Mann, der seine eigene Adoptivtochter geheiratet und dessen leiblicher Sohn Ronan Farrow die Affäre um Harvey Hollywood ins Rollen brachte, meinte es keinesfalls scherzhaft, als er in einem Interview mit dem TV-Sender BBC sagte «schlimm für Harvey, dass sein Leben nun so durcheinandergerät».
#MeToo?
Wenn meine irischstämmige Ex aus dem Big Apple, in Sachen Filmindustrie familiär und beruflich nicht ganz unbelastet, unter dem Hashtag #metoo sich mit den Opfern von Harvey Hollywood solidarisiert und mich bittet, sollte ich selbst auch ein Missbrauchsopfer sein, das bitte öffentlich zu machen, habe ich Angst. Nicht nur, weil ich so von ihr Dinge erfahre, die ich bis jetzt nicht wusste. Sondern auch, weil ich mich frage, was wir damit wirklich ändern.
Ob mit einer öffentlichkeitswirksamen Klage, ob mit einem privaten, kraftvollen Tritt zwischen die Beine eines Aggressors, oder ob beides kombiniert in umgekehrter Reihenfolge: die Angst, sich aus dem Geschäft zu katapultieren, verhindert seit jeher die einzig richtige Reaktion. Nicht nur im Filmbusiness, sondern auch im Sport, der Politik und überall dort, wo es mächtige Männer gibt, die ihre Position dazu einsetzen, ihren sexuellen Appetit zu stillen.
Das Schweigen der Lämmer
Ich kenne die globale Entertainment-Industrie nicht gut. Aber gut genug, dass ich voraussagen kann, was passieren wird. Weil in solchen Fällen immer dasselbe passiert. Zuerst wird zum Angriff geblasen. Harvey Hollywood, dessen Filme über 300 Nominationen für den Oscar© vorweisen können, wird zu Recht büßen müssen. Zusammen mit vielen anderen. Die Spielregeln werden geändert, weil so etwas nie mehr passieren darf.
Anschließend wächst Gras über die Sache. Der Missbrauch durch die Mächtigen verlagert sich auf eine neue Ebene, die von der Gesellschaft verkannt und vom Gesetz nicht erfasst wird. Das Schweigen der Lämmer und die Mädchenfresserei beginnt erneut. Daran ändert auch nichts, dass sich mit neuen Spielern in der Filmindustrie wie der China Film Group die geopolitischen Verhältnisse ändern.
Es verhält sich wie beim Fallschirmspringen. Man kann dabei sterben. Trotzdem stürzen sich Zehntausende Menschen freiwillig jedes Jahr in die Tiefe. Sie unterschreiben dazu Dokumente, in denen sie juristisch wasserdicht erklären, aus freiem Willen ein großes Risiko einzugehen und sich aller Folgen bewusst zu sein. Wie viele Menschen gibt es, die unbedingt ein Star sein wollen? Ich fürchte, es sind mindestens so viele, wie aus Flugzeugen springen wollen.
Wohl wird mir erst sein, wenn jederfrau und jedermann ohne Konsequenzen entscheiden kann, wozu sie oder er ja oder nein sagt. Erst wenn wir nicht nur Verbote und Gebote schaffen, sondern auch Alternativen, wie trotz eines „Ohne mich!“ eine Karriere im Film oder sonst wo gestartet werden kann, erst dann wird der Missbrauch abnehmen. Es liegt nicht an den Männern und nicht an den Frauen, diese Handlungsoptionen Realität werden zu lassen. Sondern an uns Menschen. Wir alle stehen in der Pflicht.
In der Rubrik „Insider“ von Gast-Autoren geäußerte Meinungen werden vor der Publikation inhaltlich nicht mit der Redaktion abgeglichen | Fotos s/w: CC0 public domain | © Filmpuls – das Magazin für Filmemacher und Videoproducer
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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 24.10.2017
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