Géraldine S.: »Alle wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was du zu sein scheinst und bist«

Filmklischee interview Géraldine
Nicht Géraldine, sondern ein Symbolbild | © Foto: Pavel Sokolov (Symbolbild)

Es gibt Begriffe, die sind Reizgranaten für das Hirn. Escort-Girl ist ein solches Wort. Ob man will oder nicht, und ungeachtet der geschlechtlichen Identifikation, reflexartig ziehen vor dem inneren Auge in die Netzhaut eingebrannte Bilder vorbei. Es sind auf Hochglanz polierte Klischees, wie man sie im Hollywood-Kino aus Filmen wie „Pretty Woman“ kennt. Oder, gefährlicher, Projektionen aus den – nicht selten eigenen – schlammigen Untiefen der Moral und Wertschätzung. Diesen schmalen Grat vermag dieses Interview mit einer Frau, die beiden Welten kennt, Film und Escort, nicht einreißen. Aber möglicherweise um einige Fußbreit erweitern.

Sie verbringt ihre Wochenenden regelmäßig als Begleiterin von Menschen, denen sie gegen Bezahlung ermöglicht, ihre selten jugendfreien Fantasien auszuleben. Sie hat sich beim Film schon einige kleine, körperbetonte Nebenrollen ergattern können, meist ohne Text. Ein Sprungbrett für eine Karriere vor der Kamera ist daraus bislang nicht geworden. Sie nennt sich Géraldine und ist, als wir dieses Interview führen, übernächtigt. Nicht wegen der Männer. Das Zeitbudget für ihre Masterarbeit hat sich als zu knapp kalkuliert erwiesen, und sie beabsichtigt ihr Studium unbedingt in diesem Jahr abzuschließen.

Filmpuls:Du hast gebeten, in diesem Interview Géraldine genannt zu werden. Das finde ich interessant. Weil, diese Namenswahl erfüllt für mich exakt das Klischee, das ich von einer Frau erwarte, die über eine Agentur für gewisse Stunden zu haben ist!

Géraldine:Da läufst du mir komplett in den Käfig (lacht). Klar überlegt das keiner, was dieser Name heißt. Weil er so aufregend französisch klingt und die Fantasie antriggert. Géraldine bedeutet „Speerträgerin“, was echt total zweideutig ist, wenn du dich mit nackten Männern abgibst.

Filmpuls:Das hört sich für mich nach Schutzschild an?

Géraldine:Nö. Schutz bietet mir meine Agentur. Wenn du mit einem seriösen Partner zusammenarbeitest, ist das Risiko minimal. Klar, ein Künstlername hilft dir bei der Abgrenzung. Aber das ist es bei Géraldine nicht. Der Name ist großartig. Nicht, weil er wie ein Filmklischee klingt. Weil er auf eine echt subversive Weise verdeutlicht, wer bestimmt, wo es hier langgeht: Es ist die Speerträgerin! Ich bin Regisseurin und Schauspielerin zugleich. Nicht so wie beim Film.

Die Karten liegen bei beiden Jobs auf dem Tisch: als Schauspielerin und als Escort.
Géraldine

Filmpuls:Darf, kann man die zwei Tätigkeiten überhaupt vergleichen?

Géraldine:Auch wenn es Leute gibt, die mich für das, was ich jetzt sage, echt in die Hölle wünschen – dazwischen liegt nur ein gradueller Unterschied. Alexander Scheer, er hat letztes Jahr den Deutschen Filmpreis gewonnen, sagt im Zeit-Magazin: „Meine Aufgabe als Schauspielerin ist es, ehrlich zu sein, auch wenn ich lüge.“ Damit liegen die Karten für beide Jobs auf dem Tisch. Du arbeitest mit dem Körper! In der deutschen Sprache sagt man buchstäblich, du verkörperst eine Rolle. Auch wenn der Kopf den Körper lenkt: Alle wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was du zu sein scheinst und bist. Was deinen Körpereinsatz betrifft, da sind Escort und Hollywoodfilme von starken Klischees besetzt. Aber so ist es nicht. Schau dir mal an, was auf TikTok oder Instagram abgeht. Ich kann mich sehr für sexpositives Denken begeistern. Aber diese animalische Anmache, die da in den sozialen Medien belohnt wird, da ist jedes Filmklischee ein lahmer Witz. Das wirst du vielleicht nicht verstehen, aber sowas macht mir echt Angst! Besonders, wenn man behauptet, so wie es die Porizkova tut, man will damit das Frauenbild verändern.

Filmpuls:Dennoch profitierst gerade du mit deinen beiden Tätigkeiten besonders stark von diesen Projektionen?

Géraldine:Die richtige, wichtige Frage war für mich eine andere. Nämlich, tun dir die Schwerpunkte, die du im beruflichen Leben setzt, wirklich gut? Du glaubst nicht, wie viele stinknormale Menschen ich kenne, die mir privat erzählen, dass ihr Job sie kaputt und unglücklich macht. Was ich damit sage: Du findest überall Leute, die aus den seltsamsten Gründen im falschen Beruf festgezurrt sind. Das ist dann eindeutig tragisch. Denk mal an freiberufliche Beleuchter oder die Maskenbildnerin beim Film, die unglaublich viel Lebenszeit und Energie in künstlerisch zweifelhafte Projekte investieren müssen und trotzdem nur kleines Geld verdienen.

Filmpuls:Während dir, wie im Film Pretty Woman, eines schönen Tages ein Richard Gere über den Weg läuft?

Géraldine:Frauen sind keine Haustiere, die, schreib das nächste Wort dann mit zwei „M“, die Mann dressieren kann! Wenn Google recht hat, hat man für das Filmplakat von „Pretty Woman“ den Kopf von Julia Roberts auf einen schmaleren Body von einer anderen Frau montiert. Das sagt vieles! Die Story ist echt Müll, 100 % Klischee! Armselig und sexistisch auch. Dieser Dackelblick-Bubi bekäme von mir in jeder Szene eine gewatscht!

Filmklischee: ein reicher Mann, eine junge Frau und ein Konzertflügel  (Szene aus: „Pretty Woman“, 1990, mit Richard Gere und Julia Roberts)

Filmpuls:Und trotzdem heiraten Schauspielerinnen immer wieder Produzenten oder Regisseure.

Géraldine:Als Schauspielerin kann es doch auch erforderlich sein, dass du den Filmpartner küsst oder eine Bettszene drehen musst. So what! Wenn abgedreht ist, gehst du in die Bar. Oder nach Hause. Meine ehrliche Antwort ist: Du kannst deinen Körper als Werkzeug einsetzen. Oder als Instrument. Ein Werkzeug hat eine Funktion. Das ist doch mit ein Grund, warum wir „Liebe machen“ sagen. Machen! Als ob Liebe gemacht werden kann. Darum liebe ich diese Unterscheidung von Werkzeug und Instrument. Mit einem Werkzeug kannst du „machen“. Aber das Instrument erzeugt eine Melodie. Diese Melodie gehört nur in meine persönlichen, privaten Liebesbeziehungen. Das ist dieselbe professionelle Distanz, die ich hochhalte, wie beim Schauspielern.

Der konnte nicht wissen, dass er etwa so stimulierend auf mich wirkte, wie meine Steuerrechnung
Géraldine

Filmpuls:Grenzen und Grenzüberschreitungen sind Zwillinge …

Géraldine: … – der echte Boss, wenn du Begleitung auf Top-Niveau machst, du nicht wie „Pretty Woman“ auf der Straße arbeitest, ist nicht der Mann. Klar, theoretisch kann immer etwas Unvorhergesehenes geschehen – aber solange es die absolute Ausnahme ist, muss ich damit umgehen können. Gefährlicher sind die Männer beim Film. Seit #MeToo wirst du, das ist meine Erfahrung, als junge Frau unterschwellig und echt fies unter Zwang gesetzt. Der Druck ist nicht kleiner, im Gegenteil. Hältst du dagegen, passt man leider nicht in die Rolle und alle sagen, das hätte rein gar nichts mit deinem Verhalten zu tun. Darum behaupte ich: Bei der Filmarbeit verkaufst du nicht nur deinen Körper, sondern dein Karma noch mit dazu!

Filmpuls:Hmm (schweigt). Ich denke grad nach, wie wir als Filmmagazin mit deiner Provokation umgehen sollten.

Géraldine:Tatsachen als Provokation empfinden, ja, dann sollte man tatsächlich nachdenken: über sich selbst! Schau: Da war eine Rolle, da spielte ich mit dem Hauptdarsteller einen One-Night-Stand. So voll das Klischee, mehr Haut als Screentime. Erfahrung ist was wert, sagte ich mir, stolz darauf, dass die sich beim Casting für mich entschieden hatten. Und unwissend, was mir dann beim Dreh passieren sollte. In meiner Szene sollten wir uns küssen, dann einander ausziehen. Nur das. Kaum berührten sich unsere Lippen, versuchte er, meine Nippel zwischen seine Finger zu klemmen, dann führte er meine Finger zwischen seine Beine. Totale Grenzüberschreitung! Der konnte unmöglich wissen, dass sein Teil, worauf er meine Hand unnachgiebig presste, etwa so stimulierend bei mir ankam, wie meine Steuerrechnung. Der Regisseur nickte, als ich meine Hand meinem Filmpartner in die Hose schob und, wie das gesamte Filmteam meinte, geiles Zeugs zu flüstern begann. Tatsächlich presste ich der Sau bis zur Schmerzgrenze den Sack und hauchte bewusst verführerisch in sein Ohr: „Ich quetsche dir deine Dinger, bis du vor der Kamera schreist!“ Du hättest diese Augen sehen sollen! In Sekunden war er ein Würstchen. Vier Tage später rief mich ein Assistent aus der Produktionsfirma an, der musste mir im Auftrag der Produzenten verklickern, dass meine Szene mit einem anderen Mädchen nochmals neu gedreht wurde.

Filmpuls:Ich glaube zu wissen, dass bei heiklen Szenen in Serien und Filmen jeweils Intimitätskoordinatoren beigezogen werden?

Géraldine:Es wurde mir gesagt, dafür wäre kein Budget da. Auch meinetwegen, weil ich an einem fairen Honorar festhielt. Was mir dann nicht ausbezahlt wurde, mit der Begründung, ich soll glücklich sein, dass mir die Kosten für den Nachdreh nicht in Rechnung gestellt werden.

Filmpuls:Diese Männererfahrungen der hoffnungsvollen Schauspielerin, was haben die bei dir als Escort-Girl ausgelöst?

Géraldine:Ich verkörpere in diesem Interview mit dir eine vierte Persönlichkeit. Es ist meine wichtigste Rolle: die meiner eigenen Schutzgöttin. Als Frau kannst du lieben, kannst von Männern fasziniert sein, du darfst aber niemals, nie von einem Kerl abhängig werden. Wenn wir das endlich begreifen, sind wir Frauen echt die besseren Männer! Und jetzt muss ich los.

Der in diesem Interview verwendete Name meiner Interviewpartnerin, Géraldine, ist ein Pseudonym. Solltest du bei einer Internetsuche oder sonstwie auf ein elegantes weibliches Wesen mit diesem wunderbaren Vornamen stoßen, ist es mit absoluter Sicherheit nicht die Frau, welche in diesem Artikel meine Fragen zu Filmklischees, Männern und Rollen beantwortet hat.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 01.02.2023

Gabriela Weingartner 24 Artikel
Gabriela Weingartner ist überzeugt, dass der Autor Patrick Süskind recht hat, wenn er sagt: »Man muss gescheit sein, um in der dummen Sprache des Films eine Geschichte klug erzählen zu können.«

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