Vier uralte, aber weltweit bewährte dramaturgische Tricks für ein noch besseres Storytelling

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»My Monster Madame« (1923) mit Loretta Lanur | © Standbild: Pavel Sokolov

Der Zuschauer erwartet eine spannende Story. Dramaturgie hat darum nur eine einzige Aufgabe: Sie muss die Erzählung einer Geschichte auf die bestmögliche Weise unterstützen. Das Storytelling ist dafür verantwortlich, wie eine Geschichte fesselnd erzählt wird. Hier erklären wir dir, wie das funktioniert und welche Rezepte es dafür gibt, die schon vor hundert Jahren erfolgreich waren.

Wie bei fast allen Dingen im Film ist auch die Dramaturgie kein Buch mit sieben Siegeln. Es gibt Erfahrungswerte und stille Abmachungen zwischen dem Filmemacher und dem Publikum. Das war schon beim Stummfilm so.

Dramaturgische Tipps und Tricks für noch besseres Storytelling

Bei der Dramaturgie gilt am Ende, wie überall im Film: Es ist einfacher und sinnvoller, bestehende Regeln zu (er)kennen, zu studieren und allenfalls zu brechen, als aus Unwissenheit nach dem Zufallsprinzip eine funktionierende Welt komplett neu erschaffen zu wollen.

Was also sind die wichtigsten Regeln, die Dramaturgie und Storytelling in unseren westlichen Breitengraden in diesem Bereich mitbestimmen? Was heißt Storytelling?

Diese sind in diesem Artikel (wie immer ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufgelistet. Dabei richtet sich der Beitrag an Einsteiger in die Materie und nicht an Profis und Dramaturgen oder Vertreter der Theaterwissenschaft, die das Handwerkzeug der Dramaturgie auch in dunkelster Nacht blind beherrschen.

Was ist eine funktionierende Dramaturgie?

Erreicht der Film die Mehrheit der angestrebten Zuschauer, funktioniert die Erzählstruktur.

Der Mensch ist auch der Grund, warum fast alle dramaturgischen Regeln seit einer gefühlten Ewigkeit bestehen. Der Mensch möchte zwar stets etwas Neues, aber eben als harmlose Variante von dem, was er schon kennt. Radikale Neuerungen und harte Brüche mit der Tradition irritieren den Zuschauer mehr, als dass sie ihn erfreuen.

Suspense ist nur möglich, wenn dem Publikum neben der Identifikation mit der Handlung auch Spannungsfelder angeboten werden. Dazu zählen:

1Überraschung

Die Funktionsweise der Überraschung ist so banal, dass man sich schon fast schämt, es zu nennen. Trotzdem funktioniert es nahezu immer. Eine überraschende Wende kann nicht nur inhaltlich, sondern auch als Umschnitt auf ein anderes Bild oder eine Szene erfolgen.

Nehmen wir einen Klassiker aus dem Jahr 1933 als Beispiel: Das Publikum weiß, dass die Crew des wagemutigen Kapitäns nach einem Riesenaffen sucht. Die Expedition schlägt sich wacker durch den Dschungel. Und plötzlich …, unverhofft, stürzt aus dem Nichts ein Baum auf den Pfad.

Ein kleiner Exkurs: Im Amerikanischen Horrorfilm wurden früher solche Schreck-Elemente auch darum systematisch „eingebaut“ damit junge Liebespaare im Kino die Gelegenheit bekamen, beim ersten Date (scheinbar) erschreckt und scheinbar Hilfe suchend nach der Hand des Gegenübers zu greifen.

2Kontrast / Gegensätze

Kontrast funktioniert nahezu immer. Sogar für das Storytelling im Imagefilm. Er ist für Dramaturgen fast schon ein Allheilmittel. Er weckt beim Kinobesucher Neugierde. Im besten Fall entsteht dabei der Wunsch nach einer Erklärung, beispielsweise wenn ein gestandener Mann plötzlich vor einer Maus flüchtet. Diese folgt an späterer Stelle im Film.

Im Fall von Kong, beileibe keine Maus, findet sich dieses Mittel der Dramaturgie gleich reihenweise angewendet: Zivilisation gegen urwüchsige Eingeborene, Schwarz gegen Weiß, Fortschritt gegen Bewahrung, Mensch gegen Natur, Arbeit gegen süßes Nichtstun. Groß gegen Klein. Stark gegen Schwach. Nicht und Grund hieß der Film-Klassiker in der deutschen Fassung: „King Kong und die weiße Frau“. Der Gegensatz lässt freundlich grüßen.

3Verzögerung (Retardierung)

Der Betrachter weiß, was geschehen wird. Die Handlung und alle Details haben ihn ebenso sorgfältig wie gekonnt darauf vorbereitet. Alle Zeichen deuten darauf hin: was passieren wird, ist unabwendbar. Schicksal. Niemand kann es ändern. Und es wird geschehen. Bald. Gleich. In den nächsten Sekunden … – und dann kommt dem Unabänderlichen etwas in die Quere, das verzögert, was passieren muss. Das ist der dritte Trick aus dem Baukasten der Dramaturgie für Film und Video: Verzögerung. Beispiel: die TV-Serie „Ripley“ mit Andrew Scott.

Verzögerung kann auch auf Stufe Drehbuch oder im Filmschnitt angewendet werden. Diesfalls wird die Problemlösung durch eine Parallelhandlung hinausgeschoben. Dazu muss die verzögernde Parallelhandlung glaubwürdig aufgebaut werden. Nur so kann die Neugierde, auf die Dinge, die da kommen werden, aufrecht gehalten werden.

Amerikanische Bestseller-Autoren wie James Patterson (über 100 Millionen verkaufte Bücher in 40 Sprachen) haben die Verzögerung zur absoluten Meisterschaft perfektioniert. Ihre Bücher gelten als sogenannte Pageturner (engl. = „Seitendreher“), weil die Handlung dermaßen spannend aufgebaut ist, dass der Leser gar nicht anders kann, als die Buchseite umzudrehen und weiterzulesen.

Beispiel für den Einsatz einer retardierenden Dramaturgie

In der Geschichte des großen Affen auf der Insel bedeutet das: Er verfolgt die Eindringlinge. Sie haben keine Chance gegen das Monster, das ihnen unaufhaltsam immer näherkommt. Steht dem Riesenaffen ein Baum im Weg, reißt er ihn aus, anders als die Inselbesucher, die sich nur mühsam einen Fluchtweg durch den Dschungel bahnen können.

Schon hören die Männer (mit aufgerissenen Augen, der Tonfilm ist seit sechs Jahren erfunden, aber die Mimik des Stummfilms ist weiterhin nicht ganz aus der Welt des Zelluloids gewichen) den Atem des Monsters. Sekunden später sehen sie seine fauligen gelben Zähne im wütend aufgerissenen Rachen des Gorillas – als sich aus dem Nichts eine hungrige, vorsintflutliche Riesenechse auf der Suche nach einem Snack auf den nach Rache suchenden Verfolger stürzt!

Der Held gewinnt wieder Distanz zum Monsteraffen, weil dieser zuerst seinen neuen Widersacher, die Echse niederringen muss. Kaum ist das getan, geht die Verfolgung weiter und das Spiel beginnt wieder von vorn.

Ein modernes Beispiel für Handlungsverzögerung

Das Prinzip der Handlungsverzögerung wird auch heute gerne und regelmäßig bei Verfolgungsjagden mit Autos angewandt:

Der Abstand des Helden zum Verfolger verringert sich immer mehr, bevor plötzlich ein Bahnübergang kommt und der Bösewicht gerade noch knapp unter den Barrieren hindurchschlüpft. Hat der Drehbuchautor für seinen Hauptdarsteller kein Auto zur Hand, hilft auch eine Metro oder U-Bahn, deren Türen sich im letzten Moment schließen. So effizient und einfach kann Dramaturgie funktionieren.

4Unwissenheit der Hauptdarsteller

Ein weiteres, bedeutungsvolles emotionales Element im Storytelling ist der Wissensvorsprung zwischen Publikum und Darsteller. Haben Zuschauer und Hauptdarsteller gleich viele Informationen, begeben sie sich gemeinsam auf die Reise durch die Filmhandlung. Es entsteht kein Wissensgefälle.

Spannender wird es, wenn entweder die Figuren in einem Film oder noch besser, die Kinobesucher, einen Wissensvorsprung besitzen: Wir wissen, was passiert, können es aber nicht verhindern.

Hitchcock, der Erfinder des MacGuffins, hat sein liebstes Mittel in der Dramaturgie auf wunderbare Weise in einem sehr bekannten Zitat auf den Punkt gebracht:

Nehmen wir an, da ist eine Bombe unter diesem Tisch zwischen uns. Nichts passiert. Und dann plötzlich: „Bumm!“ Es gibt eine Explosion. Das Kinopublikum ist überrascht. Bis da hat es eine gewöhnliche Szene gesehen, die keine besondere Bedeutung hat. Nun nutzen wir die Dramaturgie: Wir erfinden eine spannende Situation. Sprengstoff liegt unter dem Tisch. Der Zuschauer hat die Person gesehen, die den Sprengkörper dort hingelegt hat. Er ist sich bewusst, dass die Bombe um zwölf Uhr explodiert. Darum steht eine Uhr im Dekor. Jeder sieht, es ist Viertel vor zwölf. So wird das gleiche, harmlose Gespräch vor der Explosion eine Qual, weil der Kinobesucher emotional in die Szene eintaucht. Er will die Figuren warnen: „Rede nicht über so triviale Dinge. Da ist eine Höllenmaschine unter dem Tisch. Sie ist dabei, zu explodieren!“

Ohne das Vorwissen, dass unter dem Tisch eine Bombe tickt, erschreckt man über die Explosion. Dieser Schrecken (eine Folge der Anwendung der Mechanik der Überraschung) dauert vielleicht fünfzehn Sekunden. Im umgekehrten Fall lässt sich die Spannung endlos lange halten. Hitchcock war überzeugt, für fünfzehn Minuten (statt fünfzehn Sekunden) wäre so die Aufmerksamkeit des Publikums mindestens garantiert.

Fazit

Daraus folgt: Wenn immer möglich, sollte der Betrachter mehr wissen als die handelnden Personen im Film. Aber natürlich nur, wenn die Überraschung nicht als Wendepunkt selbst den Höhepunkt einer Geschichte bildet.

Das musst du wissen

  • Die Dramaturgie muss die optimale Erzählung (Storytelling) einer Geschichte ermöglichen. Alle ihre Werkzeuge dienen nur diesem Ziel.
  • Der Inhalt einer Geschichte kann durch dramaturgische Erfordernisse geformt werden. Strenggenommen gehört er aber zum Storyforming.
  • Die wichtigsten Mittel der Dramaturgie sind ebenso einfach wie bewährt: Überraschung, Gegensätze (Kontrast) und Verzögerung. Zusätzlich bewährt sich auch das Spiel mit Wissensunterschieden als effizientes Element zur Erzeugung von Spannung.

Weiterführende Literatur zum Thema Dramaturgie und Storytelling finden sich im Artikel „Zehn gute Filmbücher“.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 08.06.2017

Gabriela Weingartner 24 Artikel
Gabriela Weingartner ist überzeugt, dass der Autor Patrick Süskind recht hat, wenn er sagt: »Man muss gescheit sein, um in der dummen Sprache des Films eine Geschichte klug erzählen zu können.«

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