Unsere Journalistin und Filmemacherin Juliane Kirsch war für uns an der DOK Leipzig 2018. Exklusiv für Filmpuls publiziert Juliane in diesem Artikel ihr persönliches Tagebuch als Festivalbesucherin des 61. internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm.
Das 61. internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm öffnet am 29.10.2018 seine Kinosäle für Filmemacher, Presse und Besucher – und damit auch für mich. Im Programm stehen 121 Dokumentarfilme und 39 Animationsfilme.
Rund 3000 Filme wurden bereits in der Vorauswahl dazu gesichtet, 22 Preise werden in diesem Jahr an der DOK Leipzig 2018 vergeben, darunter sieben goldene Tauben und 78.000 € Preisgelder.
Der Eröffnungsfilm von Werner Herzog an der DOK Leipzig 2018
Als Eröffnungsfilm läuft die europäische Premiere des Dokumentarfilmes: „Meeting Gorbatschow“ des 76-jährigen Regisseurs Werner Herzog. Dies gleich an drei verschiedenen Veranstaltungsorten in Leipzig. Herzogs Co-Autor André Singer hat das Gespräch mit Michail Gorbatschow eingefädelt, so Herzog in der Pressekonferenz im Leipziger Kupfersaal. In dem Interviewfilm nähern sich Herzog und Gorbatschow der politischen Vergangenheit in Russland und Deutschland an und es entsteht ein schemenhaftes Porträt von Gorbatschow.
Doch was man nicht im Film sieht, ist, wie Herzog versucht, den ehemaligen Staatssekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion vor dem Interview mit einem russischen Gedicht aus der Reserve zu „kitzeln“. Gorbatschow antwortet mit einem russischen Lied und kann nicht beirrt werden, berichtet Herzog.
Mit Ehrfurcht und Bewunderung geht Herzog aus dem Gespräch wieder heraus. Er hat sich vorher kein Bild gemacht zu der Person Gorbatschow und ist nun stark beeindruckt und voller Ehrfurcht. Gorbatschow hingegen hat sich vorher über Werner Herzog informiert. Er lässt im Vorgespräch mit ein paar kleinen Anspielungen durchschauen, was für Filme Werner Herzog macht.
Herzogs Dokumentarfilm wird getragen von einem Interview auf Augenhöhe, welches einen Einblick in die politische Epoche von Michail Gorbatschow und aus dessen Sicht ermöglicht.
Wann der Dokumentarfilm in den deutschen Kinos anläuft, steht derzeit noch nicht fest. Dazu sei der Film zu frisch fertig geworden, sagt Herzog.
Get-together mit Leena Pasanen
Zu einem „Get-together“ lädt am Dienstag, dem 30.10.2018, die Intendantin Leena Pasanen für das Fachpublikum der Leipziger Dokumentarfilmwoche ein. Die Finnin übernimmt 2015 das Leipziger Dokumentarfilmfestival als Intendantin und Geschäftsführerin und tritt somit die Nachfolge von Claas Danielsen an.
Pasanen hat an der Universität Oulu, Finnland, Geisteswissenschaften studiert und als Journalistin gearbeitet. Sie war bereits in verschiedenen dokumentarischen Einrichtungen wie dem EDN leitend tätig und saß als Jurymitglied in verschiedenen Filmfestivals. Zuletzt war sie als Geschäftsführerin des finnischen Instituts in Budapest tätig.
Zusammen mit Dr. Gabriele Goldfuß, Leiterin Referat internationale Zusammenarbeit der Stadt Leipzig, begrüßt Pasanen die akkreditierten Gäste mit jeder Menge Sekt und drei Bier. Doch wen stören schon Details bei so vielen schönen, bunt gefüllten Gläsern?
Kaum ist der Empfang eröffnet, fällt Pasanen und Goldfuß beim Anstoßen der Ständer des Mikrofons aus der Hand. Dieser sei offenbar bereits betrunken, wie Goldfuß lachend anmerkt.
Ihr Anliegen sei es, sagen die beiden, dass dem Publikum ihre Ideen und Filme am Herzen liegen, um das Festival bunt gestalten zu können. Sie wollen „don’t talk about boring Filme!“, sagt Goldfuß und beide stoßen ein zweites Mal an, dieses Mal ohne weitere Vorkommnisse.
Das Spätprogramm am Dienstag
In dem Dokumentarfilm „Days of Madness“ aus dem internationalen Programm filmen Maja und Mladen selbst ihren Alltag mit psychischen Problemen und dem Einfluss von Tabletten. Der Regisseur Damian Nenadic´ berichtet nach der Vorführung, dass er Maja und Mladen bei einer Sitzung in einer psychiatrischen Organisation kennengelernt hat, die ein Freund leitet. Dort hat Nenadic´ mit dem Filmen begonnen und verschiedenen Protagonisten eine Kamera zum selbst Filmen mitgegeben.
Dabei entsteht ein intensiver Einblick in den Alltag, der schwer geprägt ist von Aufenthalten in einer psychiatrischen Anstalt und den Nebenwirkungen von Psychopharmaka.
Nenadic´ ist im Schnitt überrascht, wie intensiv das Material von Maja ist. Aber: „Es gab auch Tage, an denen das Material nicht verwendbar war, weil es technisch zu schlecht war oder die Protagonisten psychisch nicht in der Lage waren, zu filmen.“
Nenadic´ entscheidet sich nach einiger Drehzeit mit verschiedenen Protagonisten, ausschließlich mit Maja und Mladen weiterzudrehen, da ihre Geschichten jeweils mit Problemen in der Familie beginnen. Maja ist es, die eine sehr große Entwicklung während der Dreharbeiten macht. Während es anfänglich wirkt, als sei sie nicht zurechnungsfähig und die Ausstrahlung des Materials sehr zweifelhaft, so ist es am Schluss Maja, die ihr Leben in den Griff bekommt.
Sie nimmt seit zweieinhalb Jahren keine Psychopharmaka mehr zu sich und wirkt klar und positiv. Auch für Mladen ist das Filmen eine hervorragende Erfahrung, da er erstmals seit Langem ein Feedback erhält und merkt, dass sein Glück von ihm selbst abhängt. Beide finden durch das fünfjährige Filmprojekt Freunde und neue Kontakte.
DOK Leipzig 2018: Nach dem Film ist vor dem Film …
… und wer noch nicht müde ist von dem zwölfstündigen Kinoprogramm an diesem Tag, kann auf der ARTE Party noch ein wenig die Hüften schwingen, etwas Sekt tanken und mit frisch gebackenen Brezeln den zu viel konsumierten Alkohol wieder aufsaugen.
DOK Leipzig 2018: Der Mittwoch startet mit hartem Filmstoff
„No Obvious Signs“ von Alina Gorlova aus dem internationalen Wettbewerb ist der erste Dokumentafilm am Mittwoch. Die Regisseurin Alina Gorlova begleitet drei Monate die ukrainische Soldatin Oksana, die an ihrem Job, dem Kartieren von Kriegsleichen (!), scheinbar zerbricht. Gebeutelt von Panikattacken, sucht sie nach einem Ausweg. In der Therapie sagt Oksana: „Mir ist etwas anderes passiert, als anderen Menschen“. In ihrer Familie findet sie keine Unterstützung, da ihr niemand zuhört. So versucht sie allein mit diesen schrecklichen Ereignissen fertig zu werden.
Sie gesteht der Regisseurin Gorlova im Film, dass sie die Erste ist, der sie von diesen schrecklichen Schicksalen um sich herum erzählt. Das Zuhören der Regisseurin scheint sie so zu stärken, dass sie sich entscheidet, die Armee ganz zu verlassen. Sie sagt im Filmgespräch: „Die Kamera hatte den Effekt, dass ich noch lebe.“
Während sich die Protagonistin nur schwer im zivilen Leben einfindet, wird die Situation in der ukrainischen Armee allmählich besser. Heute gibt es im Gegensatz zur früher, mit einigen wenigen Frauen in der ukrainischen Armee, mittlerweile rund 10.000 Frauen. Den Kontakt zu den ehemaligen Veteraninnen hält die Protagonistin Oksana bis heute. Eine Rückkehr in den Armeedienst kann sie sich nicht vorstellen.
Der Dokumentarfilm „Doppelgänger“
Der „Doppelgänger“ von Michaela Taschek ist Teil des deutschen Wettbewerbes in der Kategorie Kurzfilm.
Taschek beschreibt ihre Beziehung zu ihrem Vater als unterkühlt und abweisend. „Er sprach nicht wirklich mit mir“ berichtet sie im Filmgespräch. Die emotionale Entfernung von Vater und Tochter ist der Grund, warum Taschek ihren Vater als einen „Doppelgänger“ betitelt.
Anhand von Fotos und stummen Filmaufnahmen beschreibt Taschek ihren Vater mit einem Kommentar, als würde sie versuchen, ihn wiederzufinden, ihn zu verstehen. Sie erklärt, dass ihr Vater gestorben ist, als sie 30 Jahre alt geworden ist. Später hat er sich verändert und ist unnahbar für sie geworden.
Wirklich greifbar ist die Geschichte, die dahinterzustecken scheint, in dem Kurzfilm für das Publikum nicht. Den Tod ihres Vaters hat Taschek zum Anlass des Filmes gemacht und will offenbar ihre Beziehung zu ihm damit aufzuarbeiten. Die Relevanz für ein großes Publikum bleibt jedoch auf der Strecke, da es keine konkreten Fragen an ihren Vater, das soziale Umfeld oder sich selbst gibt.
Taschek gibt im Filmgespräch preis, dass ihre Mutter den Film nicht gesehen hat, nicht mal davon weiß. Die Rolle der Mutter – vielleicht eine fehlende Perspektive im Film sowie in der Realität. Man spürt im Filmgespräch, dass Emotionen da sind, begreift sie aber im Film kaum. Es fehlt dem Film an Entwicklungen der Geschichte sowie Entschlüssen und Lösungsansätzen.
„Der Funktionär“
Andreas Goldstein, der Sohn von dem DDR-Minister für Kultur, Klaus Gysi, hat einen Film über seinen Vater gemacht. Der Dokumentarfilm ist ein Einblick in den deutschen Wettbewerb für Langfilme.
Das klingt kompliziert, ist es anscheinend auch. Andreas Goldstein zeigt diverse Archivaufnahmen von seinem Vater in politischen Gesprächen und beschreibt ihn dabei als Privatperson. Bei der Zusammenstellung der Archivaufnahmen wird deutlich, wie die Funktionäre seiner Zeit argumentieren und wie schwierig es Gysi fällt, aus diesem Muster herauszuwachsen, als es von ihm verlangt wird.
Angefangen hat Goldstein mit einem 20-seitigen Text. „Macht mal“ haben seine Geldgeber gesagt, denn keiner konnte sich vorstellen, wie der Film aussehen wird. Das scheint sich in der dreijährigen Arbeit auch nur schwerlich zu ändern.
In der Postproduktion gleitet er gelegentlich in „betreutes Schneiden“ ab, wenn er als Regisseur schwimmt und sein Cutter Chris Wright das Reglement übernimmt, so Goldstein.
Der Editor Wright berichtet, dass er gebürtiger Engländer ist und dass er die Aufzeichnungen aus den Archiven zum Teil kaum versteht. Umso erstaunlicher ist es, dass am Ende doch alles gut wird und „Der Funktionär“ auf der 61. Leipziger Filmwoche vorgeführt wird. Leicht verdaulich, aber schwere Kost, sozusagen.
Liebe und Nobelpreisträger
„Lyubov – Love in Russian“ aus dem internationalen Programm ist ein Dokumentarfilm von Staffan Julén, in dem die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch bei ihrer Befragung zum Thema „Liebe ist …“ in Russland filmisch begleitet wird. Die Aufnahmen sind ursprünglich von Alexijewitsch für ein Buch vorgesehen. Julén entdeckt das Potenzial des Materials und schneidet einen Dokumentarfilm daraus.
Die Interviews bestehen aus emotionalen Erinnerungen und unterschiedlichen Liebeskonstellationen. Während einige Erfahrungen mit der Liebe sehr traurig und vielschichtig sind, vergleicht eine Protagonistin die Liebe wie das erste Mal Händchen halten. Sie hat zu der Zeit ein paar ordentliche Kratzer von ihrer Katze auf ihrer Handfläche.
Als es endlich zum lang ersehnten Händchen halten mit einem jungen Burschen kommt, ist sie so hin- und hergerissen, dass sie das schmerzliche Brennen weglächelt und in dem Dokumentarfilm sagt: „So ist russische Liebe“.
„Ikea for yu“
„Ikea for yu“ von Marija Ratkovic´ Vidakovic´ und Dinka Radonic´ läuft im internationalen Programm. Der Film handelt von dem Aufbruch der Jugend in Kroatien, welche noch die Erinnerung an das Jugoslawien und die Ideale hat, welche die Protagonisten als Utopie in der heutigen Zeit bezeichnen. Marija filmt in ihrer eigenen Familie, wie die politischen Vorstellungen in Kroatien zwischen den Eltern/Kind-Generationen für Konflikte sorgen. Die Regisseurin Radonic´ entscheidet sich für das Tagebuchfilmen, weil sie beim ersten Treffen mit dem Kamerateam erkennt, dass sie nur so persönliche Einblicke in die Familie erhält.
Radonic´ reist erstmals mit großem Besteck an. Die Kamera ist riesig, die Familie wird komplett verkabelt, das Team steht in den kleinen, engen Räumen im Weg und als wenn das nicht genug ist, stellen sie Tischstative auf, um nichts zu verpassen. Als alles arrangiert ist, merkt Radonic´, dass sie innerhalb von wenigen Minuten nur noch über das Wetter reden.
Sie sagt zu ihrem Team: „So drehen wir gar nichts, auch wenn wir zwanzig Jahre jeden Tag herkommen.“ Also ändern sie ihre Strategie und treffen sich mit der Familie mehrmals zum Essen und unternehmen etwas zusammen. Bis dahin filmt sich die Familie ausschließlich selbst. Dann sagte Marija, dass sie nach Schweden auswandern wird und der eigentliche Film beginnt …
Der Vater nimmt die Filmpremiere in Leipzig mit einem breiten Lächeln hin und sagt zu den Filmaufnahmen: „Es war eine wundervolle Erfahrung, die wir nie wieder wiederholen würden.“
Die Mutter hingegen wirkt ernster und besinnt sich auf die Probleme der Abwanderung in Kroatien: „Das Problem ist nicht, dass die Menschen weggehen, sondern dass sie nie wieder kommen.“ Der kleine Bruder von Marija hat nun die Gelegenheit ihr zu folgen und in Schweden zu studieren, will es sich aber noch überlegen, ob er trotz vieler Widersprüche in Kroatien bleibt.
Den Mittwoch lässt die Leipziger Dokumentar- und Animationsfilmgemeinde gechillt in der MDR Lounge ausklingen … schließlich verspricht auch der Donnerstag wieder viel Sehenswertes.
Ein ganz besonderer Kinosaal!
Um 19.30 Uhr hat das Leipziger Dokumentarfilmfestival einen ganz besonderen Kinosaal hergerichtet. Es gibt zwar Stühle wie in jedem stinknormalem Kino auch, aber der Saal wird definitiv nicht geheizt, das Licht wird auch nicht abgedunkelt, gelegentlich eilen Menschen vor rüber, Tauben fliegen durch das Bild und gelegentlich hört man eine Lautsprecheransage, die nicht Teil des Filmes ist.
Dafür sind die Vorstellungen komplett kostenlos, um so einige Dokumentarfilme kostenfrei und regional zugänglich zu machen. Eine schöne Idee, die Osthalle des Leipziger Hauptbahnhofes in einen Kinosaal zu verwandeln!
Zu sehen, aber nicht zu kaufen: „All Creatures Welcome“
Passend zur Lokation läuft am Donnerstag im Hauptbahnhof der Dokumentarfilm „All Creatures Welcome“ von Sandra Trostel. Er ist Teil des internationalen Programms.
Doch entgegen dem Titel, der Zug-Gereiste vermuten lässt, handelt es sich um einzigartige Einblicke in die Hackerszene auf der Messe des CCC. Die Regisseurin Sandra Trostel ist selbst Teil der Aktivisten und erhält ein Angebot bei dem Hackerkongress zu filmen. Es handelt sich um einen Interviewfilm der die Sicht der Hacker darlegt, wie kritisch sie den Ressourcenverbrauch der Erde sehen und sich selbst als Bastler verstehen. „Wir möchten die Dinge auseinandernehmen, um sie zu verstehen“ berichtet ein Organisator der Messe.
Der Film ist ein innovativer Ausschnitt aus der Hackerszene, die in den Medien stark negativ geprägt ist. „All Creatures Welcome“ ist ein einseitiger Blickwinkel der Hacker. Er zeigt, was diese „Nerds“ da eigentlich Tag und Nacht machen. Sie nutzen ihr Know-how, um das Internet weltweit gleichberechtigt und neutral nutzbar zu machen, berichtet ein Teilnehmer der Messe. Bei der Frage, wie Trostel es geschafft hat, so viele Menschen bei der Messe zu filmen, sagt sie, dass sie immer alle gefragt hat, oder zu allen gesagt hat: „Entweder jetzt melden, oder für immer schweigen.“
Die Regisseurin Trostel ist nicht nur in ihrem Thema innovativ, sondern auch in ihrer Filmauswertung. Nach der Filmvorführung berichtet sie, dass während der Premiere zeitgleich tausende Hacker in ausgewählten Zentren ihren Film gesehen haben. Trostel hat ihnen einen Link dazu geschickt. Laut den Bestimmungen zu Filmeinreichungen bei Festivals darf ein Film vor der Premiere nicht öffentlich gezeigt werden, so auch in Leipzig. Eine zeitgleiche Premiere an mehreren Orten hat es wahrscheinlich so noch nicht gegeben.
Verkaufen wird Trostel ihren Dokumentarfilm im großen Stil nicht. Am 27. bis 30. Dezember 2018 findet erneut ein CCC-Kongress statt, wo der Dokumentarfilm veröffentlicht wird. Trostel: „Da geht der Film komplett raus. Der kann nicht gesperrt werden.“ Die Kinoauswertung hat Trostel selbst organisiert und zeigt ihn in kleinen, ausgewählten Kinos. Sie sagt: „Falls jemand den Film zeigen will, meldet euch bei mir. Ihr findet mich im Netz.“
„all-inclusive“ von Corinna Schwingruber
Ebenso mutig mit dem Datenschutz geht die Regisseurin Corinna Schwingruber mit dem Kurzfilm „all-inclusive“ aus dem internationalen Wettbewerb um. Sie dreht auf zwei Kreuzfahrtschiffen die Aktivitäten der Gäste zu einem humoristischen Essay zwischen Luxus und Wahnsinn. Das Publikum lacht herzhaft durch den gesamten Film und hat eine kollektive Frage: „Wie hast du das mit dem Datenschutz gemacht? Hast du die Passagiere gefragt?“ Nein, hat Corinna Schwingruber nicht. Aber das macht auch nichts, denn auf diesen riesigen Schiffen, die ganze Städte über die Ozeane ziehen, hat jede/r eine Kamera wie die Regisseurin Schwingruber.
Eine allgemeine Drehgenehmigung habe sie ohne Probleme erhalten, weil ohnehin jede/r alles filmt. Sie und ihr Kameramann Nikola Ilic´ fallen überhaupt nicht auf bei dem Hantieren mit dem Kameraequipment. Jeder lädt heutzutage privat gefilmte Urlaubsvideos auf YouTube und Facebook hoch, berichtet Schwingruber. Es gibt tonnenweise Material von Kreuzfahrtschiffsentertainment und dem Privatleben der Reisenden. „In den Zimmern kann man sich sogar die Veranstaltungen auf dem Fernseher anschauen, die auf dem Schiff gerade live stattfinden. „Man fällt eher auf, wenn man nicht filmt“, sagt sie. „Das Einzige, was uns von den Passagieren unterscheidet, ist, dass wir immer am Rennen sind, von einer verrückten Attraktion zur Nächsten“, die sie eindrucksvoll auf Musik schneiden.
Das Publikum und die Jury scheinen sich einig: dieser Film hat einen Preis verdient und er gewinnt den Preis „Bester Dokumentarfilm“ in der Kategorie Kurzfilm.
DOK Leipzig 2018: Freitagnacht mit Putin
In der Nacht zum Freitag wird noch mal alle Kraft zusammengerafft für die Party des Goethe-Instituts im Telegraph. Freitag ist Spätlesetag mit „Putin’s Witnesses“ von Vitaly Mansky. Das bedeutet, dass der Film nicht neu ist, sondern den Programmer/innen inhaltlich aufgefallen ist, für relevant eingestuft und in der neuen Sonderreihe „Spätlese“ gezeigt wird.
„Putin’s Witnesses“ beginnt mit altem Archivmaterial, welches Mansky auf unterschiedlichen Presseterminen von Wladimir Putin aufgenommen hat. Es zeigt, wie Putin an die Macht kommt. Das Material wird mit einem persönlichen Kommentar von Mansky begleitet und durch ein paar Privataufnahmen seiner eigenen Familie aufgefüllt, während Nachrichten im Hintergrund laufen.
Mansky versucht über Jahre ein persönliches Gespräch mit Putin zu drehen. Als Nebenstrang filmt Mansky mit Boris Nikolajewitsch Jelzin mehrmals während der Wahlen. Hier gelingt ihm ein persönlicher Einblick in das Privatleben, was ihm bei Putin verwehrt bleibt.
Erst zum Ende des Filmes gibt Putin ein persönlicheres Bild von sich preis und hinterlässt den Eindruck, intelligent, bedacht und witzig zu sein, einfach anders als das unnahbare Bild in den Medien.
Das Publikum nimmt Mansky ein so positives Bild von Putin nicht ab. Es wirft dem Regisseur Propaganda vor, „weil Putins schlechte Seite nicht gezeigt wird“. Mansky wehrt sich mit den Worten: „Ich bin kein Held, aber ich tue mein Bestes.“
Eine weitere Frage aus dem Publikum lautet: „Wie waren die Reaktionen in Russland? Oder ist der Film dort nicht gezeigt worden?“ Mansky: „Es war geplant, diesen Film in Russland zu zeigen, aber Putin hat ein neues Projekt, das sehr sensibel ist und deswegen wird er in Russland nicht gezeigt.“ So die deutsche Übersetzung der Dolmetscherin aus dem Russischen. Das Publikum wirkt verstört, vielleicht auch, weil man Mansky mehrfach das Wort „Zensur“ sagen hört, dieses Wort aber in der Übersetzung der Dolmetscherin nicht vorkommt.
Als Spätlese sorgt „Putin’s Witnesses“ für deutlichen Diskussionsstoff, wie man an den Reaktionen des Publikums merkt und trifft somit genau die Intention der Programmreihe. Frei nach der Kategorie: „aufregendes Thema, unbefriedigendes Ergebnis“.
Der Gerichtszeichner
Der „Gerichtszeichner“ von Jochen Kuhn kommt als dokumentarischer Animationsfilm daher. Es handelt sich um wunderschöne Zeichnungen aus einem Gerichtssaal mit einer skurrilen Geschichte, die einem vor Lachen die Tränen durch die Drüse drücken.
Doch nach dem Film ist vor dem Filmgespräch mit einem Filmemacher, welcher der Frage nach Wahrheit seiner wunderlichen Gerichtsstory einfach mal ausweicht, mit dem Kommentar: „Wir sehen so was täglich in den Nachrichten!“. Doch diese unkonkrete Antwort verzeiht man dem charmanten „Gerichtszeichner“ sofort wieder, denn er hat schließlich neun Monate ganz allein an seinem Film gearbeitet. „Wenn sie etwas vorhaben, müssen sie es vor anderen verbergen, also müssen sie alles allein machen.“ Der Kurzfilm läuft im deutschen Wettbewerb und wird hoffentlich auch bald im Fernsehen zu sehen sein.
Animation, die Zweite
Von dem deutschen Animationsprogramm „2 Kompilationen“ ist nicht viel Gutes zu berichten. Die kurzen Animationsfilme sind inhaltlich und gestalterisch so schwach, dass das Publikum einen jungen Filmemacher sogar auslacht. Sein kurzer Animationsbeitrag wirkt unsozial und weltfremd, kombiniert mit geschmacklich sehr fragwürdiger Gestaltung der Animationen. But we „do not talk about boring Filme“.
Nur ein Beitrag des gesamten zweiten Animationsblockes greift inhaltlich ein aktuelles Thema geistreich auf, in dem es den Missbrauch des Datenschutzes von einem fiktiven Unternehmen darstellt. Im Filmgespräch schildert die Animatorin ihr Anliegen mit der Aussage: „Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts.“
300er-Besuchermarke an der DOK Leipzig 2018 geknackt
Am Samstag knackt das Cine 4 bereits um 16:15 Uhr die 300 Menschen-Besuchermarke mit dem Dokumentarfilm „(M)other“ von Antonia Hungerland aus dem internationalen Programm. Wie der Titel ausgesprochen wird, diskutiert das Drehteam noch kurz vor der Premiere, berichtet der Moderator. Es handelt sich in dem Film nicht um klassische Mütter oder Happy Familie, sondern um alle „unnatürlichen“ Familienmodelle wie Leihmutterschaft, Samen- und Eizellenspende und um die Diskussionen, welches Familienmodell wie anerkannt ist.
Hungerland porträtiert schwule Pärchen mit adoptieren Kindern, Leihmütter aus Leidenschaft, Frauen, die keine eigenen Kinder bekommen können und Frauen, die sich bewusst für das alleinige Aufziehen entscheiden. Außerdem stellt die Regisseurin die klassischen Mütterklischees infrage und beschäftigt sich mit unterschiedlichen Beziehungskombinationen.
Leihmutterschaft hat Hungerland in Kanada unter die Lupe genommen, weil dort verboten ist, dass die Leihmutter Geld für das Austragen eines fremden Kindes erhält. Sie tragen Kinder von fremden Müttern aus reiner Leidenschaft aus. „Ich möchte gerne helfen“ erklärt eine Protagonistin.
Ein Publikumsbeitrag kritisiert den Dokumentarfilm als zu positiv, da keine Konflikte in den ungewöhnlichen Familienmodellen gezeigt werden. „In echt ist das nicht so und es wird ein neues Ideal erzeugt, das ebenfalls Druck auslöst.“
Druck verspürt das Drehteam auch in der Beantragung von Leuchtstoff, einer Filmförderung des Medienboards Berlin-Brandenburg für Abschlussfilme. Um die Förderung zu erhalten, hat Hungerland das Konzept nach Einreichung auf Wunsch des Medienboards weiter konkretisiert und letztlich die Förderung erhalten.
Derzeit sucht das Team nach einem Kinoverleih in Deutschland. Eine Ausstrahlung im RBB ist bereits geplant. Mehr kann das Team leider nicht sagen, weil auf einmal das Mikrofon ausgestellt wird. Anscheinend keine Absicht. Der Moderator entschuldigt sich höflich für die kleine Panne.
Von der Beschneidung zur Rekonstruktion
Mit einem schweren Thema endet der Festivalsamstag im Cinestar mit dem Film „In Search“ von Beryl Magoko aus dem deutschen Wettbewerb. Beryl Magoko ist Regisseurin und Protagonistin in einem und zeigt in ihrem Dokumentarfilm das Leben mit einer Beschneidung. Magoko entscheidet sich, eine Rekonstruktion der Klitoris machen zu lassen. Sie spricht mit der Kamerafrau Jule Katinka Cramer darüber, welche ihr anbietet: „Wenn du möchtest, dass dir jemand mit der Kamera folgt – ich bin hier.“
Magoko möchte es und lässt sich von Cramer bis in ihre Heimat nach Kenia begleiten, wo sie erstmals mit ihrer Mutter über die Beschneidung spricht. Bis zur OP der Rekonstruktion ist es mental für Magoko aber noch ein weiter Weg. Sie trifft sich mit Frauen, die beschnitten oder zum Teil auch Erfahrungen mit dem Sexualleben nach einer Rekonstruktion haben. Magoko teilt ihren emotionalen Leidensweg mit ihrer Familie und dem Publikum. Sie sagt: „Ich wollte anderen Frauen damit helfen.“
Ihrer Familie erzählt sie anfangs, dass sie einen Film über ihre Beziehung mit ihrer Mutter macht. Später erzählt sie einigen Familienmitgliedern vor laufender Kamera, dass sie ihre Klitoris rekonstruieren lassen hat. Die Blicke der Familienmitglieder auf die Rekonstruktion allein sind es schon wert, diesen Film zu schauen.
Emotionen verschiedenster Art schießen sichtbar innerhalb von Sekunden durch die Köpfe. Magoko wird im Filmgespräch gefragt, wie sie es fand, den Film im Kino zu sehen: „It fits cool“ schießt es aus purer Freude aus Magoko heraus. „Es war hart, aber es ist ein großartiges Gefühl.“
DOK Leipzig 2018: Die Preisverleihung
Parallel zu den letzten Filmen am Samstag läuft die Preisverleihung im Kupfersaal. Bereits um 22 Uhr stehen alle Preisträger fest und die Abschlussparty im Beyerhaus beginnt. Mit weniger Zuschauern als am Anfang der Woche, aber kein bisschen weniger prominent besucht geht die letzte Party des 61. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm zu Ende. Auch Beryl Magoko und ihre Mutter lassen sich diese Abschlussveranstaltung nicht entgehen.
Zum ersten Mal in dieser aufregenden Festivalwoche wirken die Kinos wie leer gefegt. Die Zuschauer sind wohl schon einige vom Team verdient in ihr Bettchen gekrochen. Kein Wunder nach über 70 Stunden Dokumentar- und Animationsfilmen mit 47.155 Zuschauer/innen und Besucher/innen. Hauptsache niemand träumt von den irgendwelchen „boring“ Filmen.
Ausgezeichnet: die Preisträger der DOK Leipzig 2018
Die Preisträger des 61. internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig 2018):
- „I Had a Dream“ von Claudia Tosi – Goldene Taube im internationalen Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm
- „Lord of the Toys“ von Pablo Ben Yakov – Goldene Taube im Deutschen Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm
- „Cinema Morocco“ von Ricardo Calil – Goldene Taube im Next Masters Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm
- „all-inclusive“ von Corina Schwinggruber Ilić – bester Dokumentarfilm im internationalen Wettbewerb kurzer Dokumentar- und Animationsfilm
- „Egg“ von Martina Scarpelli – bester Animationsfilm im internationalen Wettbewerb kurzer Dokumentar- und Animationsfilm
- „Marina“ von Julia Roesler – Goldene Taube für den besten kurzen deutschen Dokumentar- und Animationsfilm
- „Escapar, the Recurring Dream“ von Barbara Bohr – Goldene Taube im Next Masters Wettbewerb kurzer Dokumentar- und Animationsfilm
- „Stress“ von Florian Baron – DEFA-Förderpreis
- „Marina“ von Julia Roesler – Für den besten Dokumentarfilm zum Thema Arbeit
- „Exit“ von Karen Winther – Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts
- „No Obvious Signs“ von Alina Gorlova – MDR-Film-Preis
- „In Search“ von Beryl Magoko – Filmpreis Leipziger Ring (durch Auszählung der Publikumsstimmen)
- „I Had a Dream“ von Claudia Tosi – Preis der Interreligiösen Jury
- „#Female Pleasure“ von Barbara Miller – Spezialpreis der Interreligiösen Jury
- „Der Stein zum Leben“ Katinka Zeuner – Preis der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
- „Exit“ von Karen Winther – Young Eyes Film Award in Kooperation mit der Filmschule Leipzig e. V.
- „I Had a Dream“ von Claudia Tosi – Preis der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique
- „Film Carlotta’s Face“ von Valentin Riedl und Frédéric Schuld – mephisto 97.6-Publikumspreis (Durch Stimmenauszählung)
- „Exit“ von Karen Winther – Gedanken-Aufschluss-Preis (an einen der für DOK im Knast nominierten Filme)
- „Manic VR“ von Kalina Bertin – DOK Neuland Award
- „We Are Inside“ von Farah Kassem – DOK Leipzig und EWA Development Prize
- „Miss Universe in Jail“ von Josef Gacutan – Zonta Club Leipzig Elster Female Talent Development Prize
- „Baikal Poach-Busters“ von Anna Moiseenko – Current Time TV and DOK Co-Pro Development Prize
Ein ganz herzliches Dankeschön an Juliane Kirsch für diesen Artikel zum Filmfestival DOK Leipzig 2018 | © Juliane Kirsch,
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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 09.11.2018
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