Wirkung, Mechanik und Eigenheiten von 360 Imagefilmen in der Praxis

360-Image-Film Wirkung Mechanik
360 Imagefilm: was er kann. Und was nicht. | © Foto: Sokolov

Anders als in konventionellen Filmen kann sich der Blick des Zuschauers bei 360 Filmen rundum im Bild frei bewegen. Was aber kann dieses Genre für Marketing und Kommunikation und Image in der Praxis wirklich leisten?

Wann ergibt es Sinn, einen Imagefilm mit dieser Art von Videos zu produzieren? Für welche Art von Einsatz eignen sich 360°-Filme? Woran ist zu denken, damit 360° Videos ihre Wirkung richtig gut entfalten können?

360 Imagefilm – ein Megatrend?

Glaubt man den Anbietern der für die Herstellung von 360 Videos notwendigen Technologien, wird diese Art Film unumgänglich das nächste, ganz große Ding werden. Die Fachpresse, aber auch Publikumsmedien wie die deutsche BILD-Zeitung und Business-Analysten erklären 360°-Filme unisono zum Megatrend für 2016. Vergessen geht dabei, dass die virtuelle Realität (VR) von Ivan Sutherland bereits vor 50 Jahren erfunden wurde.

Tipps und Tricks zur Funktion und Herstellung von 360°-Videos finden sich aus technischer Sicht im Internet reihenweise. Beiträge zu Kameratypen gibt es endlos. Diese dreiteilige Artikel-Serie fokussiert darum auf das Wesen, die Inhalte und auf die Wirkung von 360°-Filmen. Ebenfalls ausgeklammert wird der Tonraum. Gastautor Nils Raouf erklärt in seinem Artikel 3D-Audioproduktion, wo der Ton im 360-Raum für VR 360 Video heute steht und was technisch möglich ist.

Inhaltsverzeichnis der dreiteiligen Serie zu 360 Film und Video:

  1. Funktion und Wirkung (dieser Artikel)
  2. Wie und wo einsetzen?
  3. Trends und Beispiele

Was Immersion für diese Art von Videos bedeutet und warum es ohne nicht geht, wird hier erklärt.

Wie ein 360 Film funktioniert

360°-Filme zeigen, anders als normale Videos, keinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Sie präsentieren die gesamte Szenerie rund um die Kamera. Perspektiven und die Arbeit mit Blende und Brennweite sind im Vergleich zum normalen Video oder Film begrenzt manipulierbar. Die Möglichkeit von Kameraschwenks zur Lenkung des Zuschauers entfällt. Ob nach oben, unten, links oder rechts: der Zuschauer entscheidet selbst, in welche Richtung er in einer Szene sehen will. Die Lenkung des Blicks über die klassischen Kameraeinstellungen ist nicht möglich.

360°-Filme werden darum auch als „Rundum-Videos“ bezeichnet. Aber anders als bei Bullet Time sieht die Kamera hier immer nach außen. Während sich jeder Film und jedes Video der subjektiven Wahrnehmung des Zuschauers stellen muss, bekommt der Zuschauer hier nochmals mehr Freiheiten. Er wählt nicht nur, wie er etwas sieht, sondern auch, was er sieht.

Ansehen kann man sich ein 360 Imagefilm entweder auf dem Smartphone, am Computerbildschirm oder mit speziell dazu hergestellten Brillen. Während man seinen Blickwinkel auf dem Computer mit der Maus bestimmt, ändern VR Filme für das Smartphone, sobald man dieses in die gewünschte Blick-Richtung bewegt, automatisch die Blick-Richtung.

VR-Brillen

Noch perfekter geht es mit einer VR-Brille. Das Kürzel VR steht für virtuelle Realität. Dreht der Träger der Virtual-Reality-Brille seinen Kopf, ändert sich wie in Realität zeitgleich sein Blickfeld. VR-Brillen werden auch Head Mounted Displays (HMD) genannt. Es gibt sie als Billigmodell aus Karton, mit oder ohne Werbeaufdruck (sog. VR Cardboard), aber auch als Hightech-Spezialbrille (aktuell: Galaxy Gear, Oculus Rift und HTC Vive). Allerdings können diese Brillen nur dann ein virtuelles Erlebnis realitätsnah bieten, wenn sie mit einem leistungsstarken Computer verbunden sind, der als Bildquelle dienen kann.

Ein wenig ist das alles wie „Second Life“ aus den Nullerjahren, einem Wirbel, dem ich seinerzeit wenig abgewinnen konnte.

Markus Böhm

Technisch kann ein 360 Imagefilm auf vielerlei Arten umgesetzt werden. Unterschieden werden kann grundsätzlich zwischen Aufnahmesystemen, die mit einer Kamera das gesamte 360°-Bild aufzeichnen und Systemen, die dazu mehrere Kameras einsetzen. Einfache Kamera-Systeme für Rundum-Filme sind schon für tiefe vierstellige Beträge erhältlich. Am oberen Ende reicht das Spektrum für professionelle Hardware bis weit in den sechsstelligen Bereich.

Der Arbeitsablauf beim 360 Imagefilm

In der Regel gilt, den richtigen Arbeitsablauf in der Datenverarbeitung vorausgesetzt: je größer die Anzahl der Kameras, desto höher die Qualität des 360 Grad Films. Wird nur mit einer einzigen Kamera aufgezeichnet, entfällt zwar in der Bildbearbeitung das Zusammenfügen der Bilder zu einem Panorama (das sog. Stitching, was in der deutschen Sprache liebevoll als „zusammennähen“ übersetzt werden kann). Dafür müssen die Daten aus einer Aufnahmeeinheit das gesamte 360°-Bild bedienen.

Weil auch bei 360 Imagefilmen nur dann Bildinformationen verbessert werden, wenn sie überhaupt vorhanden sind, garantieren in der Regel nur Mehrkamera-Systeme im Color Grading eine Qualität, die mit herkömmlichen Filmen mithalten kann.

Fünf oder sogar sieben parallel aufzeichnende Kameras generieren auch bei einem nur wenige Minuten dauernden 360°-Videos eine gewaltige Datenmenge. Damit wächst die Verlockung, die Daten auf Kosten der Qualität zu komprimieren. Dies mag zwar die Verarbeitung der Daten vereinfachen und die Geschwindigkeit der Datenverarbeitung in der Bildbearbeitung erhöhen, macht aber letzten Endes gleich viel Sinn, wie wenn man ein feines Filet durch den Fleischwolf dreht.

360 Film = Entdecken und erleben

360°-Videos sind Filme zum Umherschauen, zum eigenständigen Entdecken. Sie können sequenziell erzählen, wenn jede Sequenz einer Szene und Einstellung entspricht. Das bedingt einen hohen Erlebniswert: In jeder Blick-Richtung muss es für den Zuschauer zwingend etwas Interessantes, visuell Attraktives zu sehen geben. Etwas, das Lust zum Erforschen und Entdecken macht.

Dabei gilt in diesem Genre grundsätzlich:

Was nahe an der Kamera ist, erscheint groß im Bild. Was weiter weg ist, rückt in den Hintergrund.

360 Imagefilm: Bildzone  | © filmpuls.info

360 Image Film einfach erklärt: Funktion und Wirkung

Abhängig von der Aufnahmetechnik, und je nach Spezifikation der eingesetzten Kameras, sollte der für einen 360°-Film ideale bespielbare Raum nicht näher als 1,5 Meter und nicht weiter als 7 Meter von der Kamera entfernt sein. Das setzt jeder Art der Umsetzung und jedem Drehbuch enge Grenzen. Hinzu kommt, dass in der Realität der Dreharbeiten mit realen Räumlichkeiten und Locations gearbeitet werden muss. Das erschwert die korrekte Positionierung der Kamera zusätzlich.

Was sich näher zur Kamera befindet, wird schnell einmal verzerrt und wirkt für den Zuschauer stark irritierend. Was weiter weg ist, erscheint umgekehrt nur noch klein im Hintergrund des Videos, ist kaum zu erkennen und damit nahezu unwichtig.

Kein subjektiver Blickwinkel

Komplett weg fällt bei der Inszenierung von 360 Imagefilmen das Privileg des subjektiven Blickwinkels (siehe dazu hier) sowie das, im normalen Film ebenso willkommene wie nützliche, Phänomen des sog. unsichtbaren Schnitts.

360 Imagefilm: Sichtbare Zone / Bildausschnitt bei Kamerabewegung  | © filmpuls.info

360-filme-schema-bildzone-kamerabewegung
360-filme-schema-bildzone-kamerabewegung

Auch der klassische Filmschnitt ist ungeachtet der Kamerabewegungen beim dokumentarischen, verfilmten oder inszenierten 360 Film für Imagezwecke eine gangbare Option.

Damit dürfte klar sein: Die Mehrheit der Drehorte stellt die Kamera bei diesem Genre vor größte Herausforderungen. Zielkonflikte zwischen Filmemacher und Auftraggeber sind programmiert.

Eigene Bildsprache

Der Auswahl der Drehorte kommt eine besonders große Bedeutung zu, weil 360° Filme mit einer anderen Bildsprache arbeiten als herkömmliche Filme mit begrenztem Bildausschnitt. Der 360 Imagefilm kann nicht wie „normale“ Videos geschnitten werden. Die Kombination von Großaufnahmen mit Totalen bringt diese Filmart schnell an ihre Grenzen. Damit entfällt auch die Möglichkeit, nach dem Dreh in der Montage einen 360° Film zu gestalten oder nachträglich auf einen Aussage-Wunsch hin zu trimmen. So betrachtet streben 360° Videos viel stärker nach Authentizität. Dies noch mehr als es gute Auftragsfilme und andere Genre schaffen können. 360° Filme finden ihre finale Gestalt, ihre Struktur und ihren Rhythmus bereits bei den Dreharbeiten und nicht erst in der späteren Bildbearbeitung.

Die eingeschränkten Möglichkeiten der Montage bedeuten auch, dass nicht von Panorama-Aufnahmen auf Großaufnahmen geschnitten werden kann. Sollen Objekte beim 360-Imagefilm in einer Szene ihre Größe (sprich: ihren Abstand zur Kamera) ändern, bedarf dies einer sorgfältigen Inszenierung. Entweder muss sich dazu die Kamera bewegen oder aber das Objekt davor. Weil die 360°-Kamera das Auge des Zuschauers ist und das Storytelling beeinflusst, sollten Kamerabewegungen immer auch inhaltlich motiviert sein.

Virtual Reality ist eine magische Technologie, weil sie einen fundamentalen Shift von einem mittelbaren Informationskonsum über Text, Bild und Video zu einem unmittelbaren Informationskonsum in virtuellen Welten bewirkt.

Luca Caracciolo

Erschwerend kommt hinzu, dass der Rundumblick des Zuschauers bei 360 Filmen nicht nur den Regisseur und Kamera zwingt, sich buchstäblich zu verstecken, um nicht im Bild zu erscheinen. Auch Scheinwerfer und Mikrofone müssen in der Szenerie verborgen werden, damit sie nicht auf den ersten Blick sichtbar sind und die Illusion der Realität zerstören. So erklärt sich, warum viele 360°-Videos nur mit natürlichem Licht unter freiem Himmel statt in Innenräumen gedreht werden.

Szenen und 360-Inszenierung

360° Filme bestehen fast ausnahmslos aus einer Aneinanderreihung von wenigen, in gemächlichem Abstand aufeinanderfolgenden Spielorten (Szenen). Die Begrenzung zwingt den Realisator dazu, die richtigen Schlüsselbilder zu finden.

Zuschauer benötigen (ob beim Ansehen via YouTube, Facebook oder im Browser via Google auf einer Startseite mit neuesten Nachrichten aus der Presse) immer mehr Zeit als in klassischen Videos, um die 360°-Szenerie zu erforschen. Neue Strategien für das Storytelling sind erforderlich.

Um den Zuseher für die Entdeckungsreise zu motivieren, müssen bei 360 Grad Video ganz gezielt Elemente in die Szenen eingebaut werden. Bewegt sich insbesondere eine Person durch einen Raum (de facto um das Auge der 360°-Kamera herum), wird der Zuschauer dieser Person in der Regel folgen wollen.

Für Inhalte und Geschichten, die schnelle Szeneänderungen, Rhythmuswechsel oder eine präzise gesteuerte Verortung von Informationen und Emotionen durch Änderung der Einstellungsgrößen erfordern, sind 360°-Filme gänzlich ungeeignet. 360°-Videos geben dem Zuschauer die Freiheit, selbst hinzusehen. Im Gegenzug nehmen sie dem Macher der Filme einen großen Teil des filmischen Handwerkzeugs, mit denen sich das Zuschauerverhalten bei normalen Filmen steuern lässt. Nicht zuletzt darum wird in Zukunft ganz besonders die 360 Animation neue Maßstäbe setzen.

Zusammengefasst

Das musst du wissen

  • Die virtuelle Realität wurde bereits vor fünfzig Jahren erfunden. Trotzdem tut man sich auch noch heute damit schwer, VR und filmische Gesetzmäßigkeiten zu einem Erlebnis zu verbinden.
  • Ein 360-Imagefilm stiftet immer dann Sinn, wenn es etwas zu entdecken gibt. Diesfalls kann sich der Zuschauer (mittels Brille oder durch Navigation mit dem Mauszeiger) durch eine Szenerie bewegen.
  • Umgekehrt limitiert die Rundumsicht das Erlebnis: Weder ist der klassische Umschnitt (und damit Veränderungen der Einstellungsgrößen) möglich, noch kann ohne Kamerafahrt oder Schwenk der Bildausschnitt verändert werden.

Fortsetzung 360 Imagefilm

In der Fortsetzung dieses Artikels (Teil 2) über 360 Imagefilme geht es um die Frage, unter welchen Umständen 360° Videos als Imagefilme und Produktfilme eingesetzt werden sollten und was 360° Filme für das Storytelling im Filme machen bedeuten. Im abschließenden Teil 3 wird eine Auswahl von empfohlenen Vorgehensweisen vorgestellt, auf die 360°-Dokumentation und das perfekte 360°-Video eingegangen. Wer sich für die neue YI HALO 360-Grad-Kamera von Google interessiert: Filmpuls hat der Kamera und der Möglichkeit, mit dieser im Rahmen eines Wettbewerbs gratis während 2 Monaten arbeiten zu können, einen eigenen Beitrag gewidmet.

Zur Frage der Länge siehe: Wie lang muss ein Video sein.

360-film-variety-kristian-widmer-condor-films
360-Film: Filmplakat Variety

Hintergrundinformation:

Der Autor dieses Artikels beschäftigt sich seit 1998 intensiv mit 360°-Filmen. Er war 1999–2000 verantwortlich als ausführender Produzent für einen 360°-Unterhaltungsfilm im siebenstelligem Budgetbereich, der unter der Regie von Dani Levy mit 9 analogen 35MM Filmkameras gedreht und in Los Angeles und München postproduziert wurde. Nachdem dieser Film (im nur dafür gebauten Kino) über 12 Millionen Zuschauer generieren konnte, drehte er in den Folgejahren sechs weitere internationale 360°-Filme in Australien und Europa.

Condor Films hat ihren ersten Circlevision-Film für die schweizerische Landesausstellung 1964 gedreht.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 24.05.2016

Kristian Widmer 14 Artikel
Kristian Widmer ist Mitglied der Schweizer Filmakademie. Der promovierte Jurist und Inhaber eines MBA der Universität St. Gallen HSG war langjähriger CEO der 1947 gegründeten und mit einem Academy Award™ ausgezeichneten Condor Films AG.

Teile jetzt deine Erfahrungen

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Links zu Werbezwecken werden ausgefiltert.


*