360 Grad Film: Wie und wo für die Unter­nehmens­kommuni­kation einsetzen?

360-Grad-Film welche Zwecke sinnvoll Marketing Unternehmen
Was man für Marketing und Kommunikation über 360 Grad Filme wissen muss | © Foto: Sokolov

Virtual Reality und 360 Grad Film ist im Trend. Die Lobeshymnen, die über diese neue Spielart der Videoproduktion kolportiert werden, erinnern an den gewaltigen Wirbel um 3D-Fernseher vor einigen Jahren.

Sich frei in einem Video bewegen, war bisher den Games vorbehalten. Der 360 Grad Film füllt nun die Lücke. Hier hat der Zuschauer alle Freiheiten. Er kann seinen Blick lenken, wohin er will. Dabei aber geht oftmals vergessen: Dieser Freiraum geht zulasten der Inszenierung und des Regisseurs. Dieser Artikel erklärt dir, warum dem so ist.

360 Grad Film: ein Trend, der keiner ist?

Der Siegeszug des 360 Grad Films hätte weltweit die Kommunikation mit Film und Video auf den Kopf stellen sollen. Aber: Genauso wenig wie es 3D war, ist auch 360 Video keine Neuheit. Die Audiovision experimentiert mit diesen exotischen Filmformaten schon seit mehr als fünfzig Jahren. Auch die virtuelle Realität (VR) ist nicht neu. Sie wurde schon vor 50 Jahren von Ivan Sutherland erfunden.

Neu für die Immersion aber sind die technischen Möglichkeiten der Herstellung für diese Art Video. Und diese bieten, klug eingesetzt, in der Tat und auf Dauer neue Perspektiven und ein überzeugenderes Ergebnis als früher.

360 Grad Film: Serie

Teil 1 dieser Artikel-Serie hat die Eigenheiten und Funktionsweisen von 360 Grad Film beleuchtet. Teil 2 untersucht nun die Frage, wann ein solches Video oder wirklich Sinn ergibt, wie und wo man ein 360 Grad Film einsetzen soll, und was das „Rundum-Bild“ für das Storytelling bedeutet:

Inhaltsverzeichnis der dreiteiligen Serie zu 360 Grad Film und Video:

  1. Funktion und Wirkung
  2. Wie und wo einsetzen? (dieser Artikel)
  3. Trends und Beispiele

Imagefilme und Produktfilme

Der 360 Grad Imagefilm porträtiert ein Unternehmen, kommuniziert die Alleinstellungsmerkmale des Unternehmens und illustriert die Werte des Unternehmens. Der Produktfilm in 360 Grad realisiert, stellt nicht das Unternehmen als soziotechnischen Wirtschaftskörper in den Vordergrund, sondern ein Produkt oder eine Dienstleistung dieses Unternehmens.

Beim 360 Grad Film ist die Rundum-Sicht des Zuschauers systembedingt beim Wiedergeben die ganze Dauer gegeben. Die gezielte Auswahl eines Blickwinkels in nur eine Richtung ist unmöglich. Ebenso die Arbeit mit klassischen Kameraeinstellungen. Gleichzeitig entfallen die Vorteile des konventionellen Filmschnitts.

Ein 360 Grad Film kann nicht erst im Schnitt seine Aussage, seinen Rhythmus und seine Struktur bekommen. Die Möglichkeiten, sequenziell zu erzählen, sind im Vergleich zum klassischen Film begrenzt.

Wann ist 360 Grad sinnvoll?

Für die Prüfung, ob ein 360-Imagefilm oder Produktfilm als 360 Grad Film gedreht werden können, heißt das ganz konkret:

Dort, wo Inhalte, Werte oder der Produktnutzen nicht auf einen Blick als äußerliche Erscheinung vom Zuschauer visuell erfasst und verstanden werden können, ist ein 360 Grad Film das falsche Medium.


360 Grad Film so nichtBeispiel: Die Werte eines Unternehmens sind erst auf den zweiten Blick zu entdecken. Sie spiegeln sich weder in der Architektur, noch in der Infrastruktur eines Büros oder in den Arbeitsabläufen. Diesfalls verhindern der Rundumblick, das Wegfallen der Montage und der Zwang zur Reduktion auf wenige Szenen für den Zuschauer das korrekte Erfassen des Aussagewunsches.

Wenn der Ort, an dem die 360-Grad-Kamera positioniert wird, den Zuschauer weder inhaltlich noch visuell dazu stimuliert, sich durch das 360°-Bild zu bewegen und die gesamte Bildwelt zu entdecken, ist ein 360 Grad Film ebenfalls suboptimal.


Beispiele

Beispiel: Eine Firma produziert erstmals in seiner Geschichte voll automatisiert Produktverpackungen. Das hochmoderne Fertigungsband mit Robotern steht in einer neu erstellten, seit Monaten noch teilweise leer stehenden Werkhalle. Für den Zuschauer eines solchen Videos enthalten damit zwei Drittel der Dauer des Rundum-Videos keine spannenden Informationen, die seine Aufmerksamkeit verdienen.

Der resultierende Effekt aus diesen Minuten ist vergleichbar mit einer Webpage, die dem User zu wenig Informationen bietet: Die Verweildauer sinkt, weil der User oder Zuschauer aussteigt. Sind Grafiken oder Interviews erfolgsrelevant, kommen diese Filme schnell an ihre Grenzen.


Beispiele

Beispiel: Eine Bilanzmedienkonferenz wird als 360 Grad Film dokumentiert. Eingeblendete Grafiken mit Verlaufskurven sollen die Inhalte verdeutlichen. Für die Macher gibt es zwei Optionen, die beide nicht überzeugen: Entweder riskieren, dass der Zuschauer die Grafikinformation im Video nicht sieht, weil er in die falsche Richtung blickt, oder die Zuschauerführung mit einem zusätzlichen, meist artfremden Element in die gewünschte Richtung zu lenken.

Im normalen Film erzählt die Kamera als Auge des Zuschauers die Geschichte mit. Sie wählt den Blickwinkel, legt mit Perspektive und Brennweite, mit Kameraschwenk und Kamerafahrten fest, was das Publikum sieht und legt so, trotz späterer subjektiver Wahrnehmung, den roten Faden der Erzählung. Bei VR ist das anders.

Storytelling

Mit 360 Grad Film eine Geschichte erzählen zu wollen, ist unglaublich anspruchsvoll. Das gilt auch für die 3D-Audioproduktion. Wer das Gegenteil behauptet, hat es entweder noch nie versucht, oder nicht verstanden, wo wahrnehmungspsychologisch die Grenzen von 360 Grad Film liegen.

360 Grad Film: der bespielbare Kamerabereich besitzt enge Grenzen

Anders als bei Bullet Time, wo der Blick der Kamera nach Innen gerichtet ist, sieht bei 360 Grad Film die Kamera nach „Außen“ Dabei ist der bespielbare Bereich limitiert. Dies, weil nur in einer beschränkten Aufnahme-Zone (im Bild mit grüner Farbe dargestellt) das Geschehen vor der Kamera weder zu weit noch zu nah am Kameraobjektiv liegt. Alles, was außerhalb der idealen Aufnahme-Zone (des bespielbaren Korridors) liegt, ist entweder verzerrt (weil zu nah) oder winzig und nur im Hintergrund zu sehen. Etwas einfacher hat es, wer mit 360 Animationen arbeitet.

Natürlich: abfilmen kann man alles und jedes. Das ist das Schicksal des Films. Aber gestalten, inszenieren und kontrolliert eine Geschichte in 360° zu erzählen, das ist ein großes Paar maßgeschneiderte Schuhe.

Beispieleempfohlene Vorgehensweise: Idealerweise erzählt beim 360 Grad Film der Drehort selbst ihre Geschichte. Die Platzierung und die Bewegung der Kamera kann dabei die Blickrichtung des Zuschauers und damit die Abfolge von den Dingen, die der Zuschauer schrittweise während der Dauer der Spielzeit entdeckt, bis zu einem gewissen Grad beeinflussen und unterstützen.

Die bewegte 360 Kameras wandert dabei in Wahrheit auf einem schmalen Grat: erfolgt die Bewegung der Kamera mit einiger Geschwindigkeit, wendet sich die Mehrheit der Zuschauer in diesen Minuten fast sicher in die Richtung, aus der ihm das Bild entgegenkommt.

360 Grad Film: Kamerabewegungen wollen sorgfältig geplant werden

Kamerafahrten in 360 Grad

Fährt die Kamera beispielsweise auf Ski auf einer Piste, blickt der Zuschauer im Bild beim 360 Grad Film stellvertretend für den Skifahrer vorwärts. Dies, weil der Blick zurück nicht dem eigenen Ski-Erlebnis entspricht – schließlich fährt kaum ein Mensch rückwärts blickend eine Skipiste hinunter. Zugleich gilt es bei derartigen Filmaufnahmen natürlich auch, sich die bewährten Regeln der filmischen Dramatisierung von Sport zu gewährleisten.

Der Zuschauer blickt aber auch darum voraus, weil die Bildinformationen in seinem Rücken ihm nichts Neues mehr bieten können. Alles, was an ihm digital vorbeizieht, hat er wie in einem fahrenden Auto schon gesehen.

Die digitale Bildinformation ist aus Sicht eines 360 Grad Films diesfalls nur noch visuelle Umweltverschmutzung ohne inhaltlichen Mehrwert.


Beispiele

bestes Verfahren: Ergänzend zur sorgfältigen Wahl des Drehortes und der Kamerabewegungen nutzen inhaltlich anspruchsvolle Filme zur Inszenierung des Zuschauererlebnisses auch Bewegungen von Menschen vor der Kamera.

Ist im Vordergrund auf 10° eine Person im Bild positioniert, die nun im Uhrzeigersinn um die Kamera herum auf die Position von 120° geht, wird der Zuschauer, animiert durch die Bewegung, der Person folgen wollen.


Beispiele

beste Lösung: Bei Bewegungen der Kamera wie auch bei Bewegungen vor der 360-Grad-Kamera muss strikt darauf geachtet werden, dass die Bewegungen stets innerhalb des sicheren, bespielbaren Korridors erfolgen.

Der Korridor um die Video-Kamera bezeichnet die Fläche, in welcher die Subjekte oder Objekte vor der Kamera weder verzerrt (weil zu nah an der Kamera) noch zu klein (weil zu entfernt) aufgenommen werden können.

360-Audio

Die Inszenierung und das Storytelling in einem 360 Grad Film kann maßgeblich auch auf der Ebene des Tons unterstützt werden. Erklingt im Raum eine Autohupe, wendet sich der Zuschauer unbewusst sofort neugierig dorthin, wo das Geräusch herkommt.

Leider ist die aktuell verfügbare Technologie auf YouTube und anderen Digital-Plattformen für digitale Rundum-Videos in dieser Hinsicht noch nicht auf der Höhe der Zeit angekommen.

Bei Circlevision-Filmen, welche standortgebunden in gezielt dafür erstellten Kinos vorgeführt werden, ist es eine zwingende Selbstverständlichkeit, den Ton dank unterschiedlich positionierten Lautsprecherboxen exakt einem Punkt auf der 360°-Leinwand zuordnen zu können. Facebook, YouTube Kanäle und Apps können dies (noch) nicht. Damit mangelt es dieser Spielart von Videos zurzeit noch an einem der wichtigsten Tools zur dramaturgischen Führung des Zuschauers.

Einsetzbar sind 360 Grad Film auch als Testimonial. Hierbei ist besonders präzise auf die Positionierung der Personen und auf den Abstand der Menschen zur Kamera zu achten.

Distributionsplattformen für 360 Film

Das Wiedergeben von 360 Grad Film ist, anders als die Denkarbeit, die mit der Kreation, Planung und Herstellung eines Films einhergehen sollte, ein Kinderspiel. Google, Facebook und YouTube unterstützen das Format ebenso wie die Browser Chrome, Opera oder Firefox. Einmal auf die Plattform geladen, lässt sich der Film ohne Hilfe problemlos in 360 Grad wiedergeben. Eine Spezial-Brille ist dazu nicht zwingend erforderlich.

Oculus heißt das Ding, das man sich vor die Augen schnallt, um in eine elektronisch erzeugte Welt einzutauchen. Dem User wird vorgespielt, dass alles möglich sei. Dabei merkt er kaum, wie gegängelt er durch diese elektronischen Visionen zappt. Oculus wird das nächste Must-have auf dem Elektronik-Markt sein. Es ist absehbar, wer sich davon neue Möglichkeiten verspricht: die Pornoindustrie.
Adrian Daub

Wer es etwas exklusiver will, publiziert seinen 360 Grad Film mit der eigens zu diesem Zweck erstellten App. (Diesfalls sollte man darauf achten, dass einem der Anbieter der App nicht eine, für kleines Geld erhältliche, Copy-Paste-Anwendung als aufwendige Eigenprogrammierung verkaufen will).

Fortsetzung der Artikel-Serie zu 360 Grad Film

Der letzte Teil dieser Artikel-Serie widmet sich der 360-Dokumentation und präsentiert eine Gruppe ausgewählter Video-Beispiele für 360 Grad Film aus aller Welt, deren Leistungen überzeugen. Zur neuen YI HALO 360-Grad-Kamera von Google existiert in FILMPULS ein eigener Artikel.

Das musst du wissen

  • Ein 360 Grad Film folgt anderen Gesetzmäßigkeiten, als dies ein normales Video tut. Er bewegt sich zwischen virtueller Realität, Game und Bewegtbild.
  • Es gibt bis anhin keine klugen Wege, innerhalb eines Filmwerks zwischen 360 Grad Film und herkömmlicher Machart hin- und herzuwechseln. Der Entscheid für den Rundumblick ist für das jeweilige Werk final.
  • Wo es nicht zu sehen oder zu erleben gibt, ist der Entscheid für einen 360 Grad Film die falsche Formatwahl. Dasselbe gilt auch, wenn eine Geschichte im eigentlichen Wortsinn erzählt werden soll.

Haben Sie Fragen zu diesem Artikel? Oder eigene, möglicherweise andere Erfahrungen mit 360 Grad Film gemacht? Nehmen Sie mit uns via Kommentarfunktion bitte Kontakt auf und teilen Sie ihre Erfahrungen. Jeder Input und jedes Feedback ist willkommen!

Hintergrundinformation

Kristian Widmer, einer der Mitautoren zu diesem dieser Artikel-Serie, hat ab 1998 bis zu seiner Berufung in die Geschäftsleitung der Condor Films AG mit einem internationalen Team aus 360-Experten sieben 360 Grad Filme im Kundenauftrag gedreht. So u. a. für die Volkswagen AG, die Expo.02, sowie mit Kameramann Michael Ballhaus (ASC) und Regisseur Dani Levy für einen europäischen Themenpark.

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Dieser Artikel wurde erstmals publiziert am 26.05.2016

Redaktion Filmpuls 200 Artikel
Unter der Bezeichnung »Redaktion Filmpuls« erscheinen Beiträge, die von mehreren Redaktionsmitgliedern gemeinsam erstellt oder bearbeitet wurden.

2 Kommentare

  1. Hallo! Ich finde nicht, dass die Wiedergabe so leicht abgehakt werden kann. Wenn man einer Gruppe von Leuten ein „normales“ Video vorführen will, kann man das aktuell mit Beamer und Leinwand recht brauchbar. Ein 360°-Video lässt sich nur begrenzt gemeinsam betrachten. Es müsste jeder eine Brille erhalten, die an einem Zentralen System hängt. (Cardboard mit eigenem Smartphone und Startkommando wir es da nicht bringen). Eine mobile 360°-Leinwand gibt es wohl noch nicht und einen 360°-Beamer, welcher ohne Leinwand auskommt.

  2. Guter Artikel. Jedoch werden Möglichkeiten im Audiobereich komplett ausgelassen. Dabei ist es möglich, nicht nur „responsives“ Bild, sondern auch ebensolches Audio zu erzeugen. Der Effekt: Nicht nur das Bild folgt den Bewegungen, sondern auch die Klangkulisse. Mit responsivem Audio erschließt man eine weitere Tiefe, welche 50 % des Gesamterlebnisses ausmacht. Bei Fragen: Mich kontaktieren. Lieber Gruß!

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