Ein bildgewaltiges Kinogewitter ohne Echo: Film »1917« von Sam Mendes | Filmkritik

Film 1917 Sam Mendes Filmkritik
Visuelles Feuerwerk: 1917 von Sam Mendes | © Pressefoto: DreamWorks

Gewaltige Bilder für das Kino, gewaltiger Ton und mit einem vor Gewalt strotzenden historischen Hintergrund: »1917« ist ein gewaltiger Kriegsfilm. Regisseur Sam Mendes erzählt in seinem Film die Geschichte von zwei Freunden im Ersten Weltkrieg, die als britische Soldaten und Meldeläufer die Linien der Westfront durchqueren müssen.

Regisseur Sam Mendes ist der Mann, der mit „American Beauty“, „Jarhead – Willkommen im Dreck“ und „Skyfall“ schon mehrfach Filmgeschichte geschrieben hat.

Ins Filmgeschäft geholt wurde der ehemalige Leiter eines renommierten Theaters in London, wo er auch selbst inszenierte, von einer anderen Filmikone. Steven Spielberg brachte Mendes in den Neunzigerjahren nach Hollywood zum Kino. Dort lernte Oscarpreisträger Sam Mendes 2003 auch seine spätere, seit 2010 ehemalige, Ehefrau Kate Winslet (Mare of Easttown) kennen.

Sam Mendes selbst spricht in Interviews vom Effekt der Immersion, den es für ihn mit diesem Film zu erreichen galt. Damit ist gemeint, dass der Zuseher im Kino im Film »1917« nicht nur in die Handlung eintaucht, sondern vergisst, dass er Zuschauer ist. Darum entschloss sich Mendes, zusammen mit seinem Kameramann Roger Deakins, den Film so zu drehen, als wären die gesamten zwei Stunden Laufzeit des Filmes eine einzige Kameraeinstellung.

80%
1917 Trailer 2 German Deutsch (2020)

1917

Kriegsfilm von Bond-Regisseur Sam Mendes

Filmtitel
1917 (2019)
Regie
Sam Mendes
Filmdauer
1 Std. 59 Min.
Darsteller:in
George MacKay, Dean-Charles Chapman, Mark Strong, Andrew Scott, Richard Madden, Claire Duburcq
Bewertung
★★★★★☆
80 % von 11'856 Menschen lieben diesen Film
Genre
Kriegsfilm, Action, Drama
Box Office vs Budget
Einspielergebnis: 395 Mio. USD (Produktion: 100 Mio. USD)

»1917« über die zwei britischen Soldaten Schofield (George Mac­Kay) und Blake (Dean-Charles Chapman) ist der wohl persönlichste Film, den der Regisseur je gedreht hat. Und zugleich wohl auch der kühnste Spielfilm seiner bisherigen Karriere. Denn das Ziel war nichts weniger, als den Zuschauer in der Handlung so an der Hand zu nehmen, dass es für ihn kein Entrinnen aus der Handlung gibt. Entsprechend fährt es einem unter die Haut, wenn die beiden Hauptfiguren in eine Falle der Deutschen geraten und um ihr nacktes Leben kämpfen.

Ansehen
DVD oder Blu-Ray
★★★★★ = empfehlenswert | ★ = kaum sehenswert
Credits & Filmdaten von | Nutzung erfolgt eigenverantwortlich


Das Resultat: schon die ersten fünf Minuten des Filmes mit Charles Chapman, Colin Firth, Benedict Cumberbatch und Richard Madden sind zum Niederknien. Mein Gott!, denkt man. Wie genial ist das denn! Dieses Versprechen, soviel sei hier verraten, löst der Film auch bis an sein Ende uneingeschränkt ein. Das ist auch ein Verdienst des Drehbuchs, welches der Regisseur gemeinsam mit Krysty Wilson Cairns verfasst hat.

 

»1917«, Film von Sam Mendes | Filmkritik

 

Man staunt über den Sog und die Virtuosität der Kamerabewegungen. So etwas wie im Film »1917« gab es im Kino in der Tat bisher noch nie. Es ist, als ob die Kamera wie ein unsichtbarer Engel neben den Hauptdarstellern stehen oder über ihnen schweben würde. Das ist besser als James Bond.

 

Zumindest bis zu einer ersten Abblende. Diese erfolgt nach 40 Filmminuten ohne Unterbruch und ohne einen einzigen sichtbaren Schnitt.

 

Ich war von Beginn weg überzeugt, dass dieser Film in Echtzeit erzählt werden sollte.
Sam Mendes

 

Auch ausgebuffte Filmprofis fragen sich in der Tat, wie so was möglich ist. Die Antwort: Software, oder profaner formuliert, der Computer, der macht es möglich.

 

Zwar wurden einzelne Szenen mit bis zu einer Länge von 6 Minuten tatsächlich am Stück gedreht. Der Film wurde also, anders als ein One Shot Film, nicht in einer einzigen Einstellung ohne Unterbruch gedreht.

 

Die Länge der Einstellungen im »1917« Film von Sam Mendes definierte die Location in Kombination mit der Kamerabewegung. War der Bewegungsspielraum ausgeschöpft, wurde unterbrochen. Um die Kontinuität zu gewährleisten, positionierte man die Schauspieler in der anschließenden Einstellungen am gleichen Ort. Wo keine Wischblenden (Kamerafahrten vorbei an Zäunen, Brettern, etc.) möglich waren, sorgen Computerprogramme anschließend für scheinbar nahtlose Übergänge.

 

Vergegenwärtigt man sich, dass Kamera wie auch Darsteller ständig in Bewegung sind, kann man über die Perfektion dieser Übergänge, die auch von einem geschulten Auge nicht als solche erkennbar sind, nur staunen.

 

Nicht weniger erstaunlich sind die Lichtgestaltung und die Filmsets in diesem Epos um das Schicksal jungen britischer Soldaten.

 

Hier zeigt sich die Summe aller Erfahrungen, die Kameramann Roger Deakins in seiner langen Karriere mit Spielfilmen und großem Kino gesammelt hat. Seine agile Kamera macht die Schützengräben des Ersten Weltkriegs im April 1917 ebenso wie Häuserruinen in diesem Film von Sam Mendes zu einem Gemälde. Mal beängstigend, mal zärtlich-poetisch. Nach diesem Film fragt sich niemand mehr, ob ein Cinematografer nicht auch Künstler, und zugleich Maler sein kann.

 

Alles andere als ein Oscar wäre seltsam gewesen für diese gekonnte Bilderzauberei. Das sah die Academy ebenso. Deakins durfte dieses Jahr in Hollywood verdientermaßen ein Goldmännchen für seine Arbeit nach Hause nehmen.

 

»1917«: The Big Picture

 

Bei solch tadelloser Bildgewalt traut man sich schon fast nicht mehr, das Kamerahandwerk in einen größeren Kontext zu stellen. Trotzdem muss man es bei diesem Thema tun. Denn so grandios »1917«gedreht ist, die digitalen Aufnahmen kollidieren zu einem gewissen Grad mit ihrer inhaltlichen Absicht. Sie bringen uns zwar die unvorstellbare Situation im Stellungskrieg gegen deutsche Soldaten an der Westfront näher, schaffen aber gleichzeitig durch die künstlerische Überhöhung wieder eine irritierende ästhetische Distanz.

 

Deutlich wird das beispielsweise in einer Szene, in der sich in einem Gastauftritt der ehemalige Bond-Bösewicht Andrew Scott eine Zigarette anzündet.

 

Sam Mendes’ Pate Steven Spielberg, der mit „War Horse“ (2011, deutscher Titel: Gefährten) ebenfalls ein Kriegsdrama mit jungen Soldaten realisiert hat, war bei der Produktion von »1917«mit seiner Firma Dreamworks als Produzent beteiligt. Mag sein, dass er – genauso wie die beteiligten Studios – sogar froh darüber war, dass die Bilder den wahren Horror von damals zu einem gewissen Maß abmildern und den Zugang zur Thematik damit einem größeren Publikum ermöglichen. Die weit über 100 Millionen, die der Film in kurzer Zeit eingespielt hat, geben ihm recht.

 

Das Filmposter zu 1917

 

In seiner emotionalen Intensität kommt der Film »1917« darum nicht an Peter Jacksons Dokumentation They Shall Not Grow Old heran, die ebenso die Westfront im 1. Weltkrieg zum Thema hat. Auch wenn beide Regisseure unmissverständlich betonen, dass ihre eigenen Großväter damals an der Front waren.

 

Dass man sich am Ende trotz aller hehren Absichten im Kino wähnt, statt mit den Darstellern im knietiefen Schlamm ums Überleben zu kämpfen, dazu trägt auch die Wahl der Hauptdarsteller bei. Bemerkenswert ist, wie Lance Corporal William Schofield reagiert, als er erfährt, dass Blakes Bruder Teil einer ersten Angriffswelle war.

 

Dafür war nebst Regisseur Sam Mendes auch Nina Gold mitverantwortlich. Gold ist die letzten Jahre ein Gütesiegel für die perfekte Besetzung von Rollen geworden. Sie ist normalerweise beim Casting für Spielfilme und hochwertige Serien in Los Angeles und New York ein Garant dafür, dass man sich solche Fragen nicht stellen muss.

 

Indiana Jones und Tim & Struppi lassen grüßen

 

Lance Corporal Tom Blake (Dean Charles Chapman) und George MacKay, die beiden Protagonisten von »1917«, wurden von den Make-up-Artisten als britische Soldaten zwar einigermaßen kriegsgerecht kaputt geschminkt.

 

Man kann sich dem Eindruck trotzdem nicht ganz erwehren, dass die beiden Schauspieler trotz perfekter historischer Uniform direkt aus einem Burger King auf dem Filmset gelandet sind.  Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück? Dort versuchen sie, als eine Art soldatische Tim und Struppi (übrigens 2011 ebenfalls von Uber-Talent Spielberg verfilmt) in den Magen und die Herzen der Zuschauer zu stolpern.

 

So ganz können die beiden sich nicht entscheiden, ob sie in diesem Film nicht doch nur eine Rolle spielen. Immer begleitet vom Soundtrack von Thomas Newman. Haben die Zwei beim Dreh gefühlt, dass die Kamera der wahre Star sein würde?

 

Nur die Musik kämpft gegen die visuelle Dominanz der Kamera an. Sie treibt im Kino wie im Film »1917« mit ihren harten Elektrobeats die Darsteller vorwärts. Aber nur, um diese Momente später mit pompösen orchestralem Zuckerguss in der grandiosen Szenerie emotional festzukleben.

 

Einen Film in diesem Umfang machen zu dürfen, das ist echter Luxus.
Sam Mendes

 

So schwankt denn dieses filmproduktionelle Meisterwerk letzten Endes doch ein wenig zu stark zwischen Indiana Jones, Kaugummi, Betroffenheit und Kriegsdrama. Und trotzdem, 1917 ist ein Film, ein ambivalentes Meisterwerk, das man nicht nur als Filmemacher unbedingt gesehen haben muss!

 

Vielleicht darf man sogar froh darum sein, dass sich nur die Bilder, nicht aber das Leiden der Kriegsteilnehmer, beim Kinobesuch unwiderruflich in das eigene Gedächtnis einbrennen.

 

Verloren zwischen Himmel und Erde

 

»1917« von Sam Mendes schwebt als Film im Kino zwischen Himmel und Erde. Die Füße von Dean-Charles Chapman stapfen durch den Schlamm, in dem Ratten an Pferdekadavern nagen, hinterlassen aber trotzdem keine Fußabdrücke.

 

Umgekehrt ist der Himmel nicht vorhanden. Oder aber er spannt sich über die gespenstische Szenerie wie ein buntes Zirkuszelt. Darin gleicht er dem geistigen Horizont der Geschichte, die leider doch eher zur einfacheren Kategorie von Kriegserzählungen gehört, Klischees inklusive.

 

»1917« ist ganz einfach zu verstehen, schön anzuschauen und verursacht keine geistigen Verdauungsprobleme. Anders als die Realität.

 

Nur vier Jahre vor »1917«, dem Zeitpunkt der Handlung im Film von Sam Mendes, die Soldaten im Film waren zu diesem Zeitpunkt bereits Teenager, erklärte beispielsweise David Starr Jordan, damals Präsident der Stanford University öffentlich: „Der Krieg in Europa, der ewig droht, wird nie kommen. Die Bankiers werden nicht das Geld für solch einen Krieg auftreiben, die Industrie wird ihn nicht in Gang halten, die Staatsmänner können es nicht. Es wird keinen großen Krieg geben!“

 

Er folgte damit, wie zu diesem Zeitpunkt nahezu alle führenden Denker der westlichen Welt, der viel zitierten Logik des Briten Norman Angell. Dieser bewies vor dem Ersten Weltkrieg in seinem Weltbestseller und „Offenen Brief an die deutsche Studentenschaft“ die Unmöglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem folgenden Argument: „Selbst, wenn das deutsche Militär sich vielleicht an England messen wollte, gibt es keine bedeutsame Einrichtung in Deutschland, die diesfalls nicht schweren Schaden leidet“.

 

Erich Maria Remarque war als deutscher Soldat ein Veteran des Ersten Weltkriegs an der Westfront.

 

Er stellte nach dem Krieg fest: „Das Grauen tötet nur dann, wenn man darüber nachdenkt“. Darum sollte man über diesen Film nicht allzu viel nachdenken. Dieser Spielfilm ist ein bildgewaltiges Kinogewitter ohne Echo. Trotzdem kann man über die Bilder und das unglaublich gekonnte Entertainment staunen und die geniale filmische Arbeit von Sam Mendes und Roger Deakins genießen, als wäre »1917« ein edles Glas Rotwein.

 

»1917« erschien im Dezember 2019. Der Film mit einer Länge von 110 Minuten ist seit Januar 2020 auf Blu-Ray erhältlich und kann bei Amazon Prime gestreamt werden.

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Zachery Z. 51 Artikel
Zachery Zelluloid war in der Unterhaltungsindustrie tätig. Er schreibt unter Pseudonym, weil er weder vertraglichen Schweigepflichten verletzen, noch das wirtschaftliche Fortkommen der Berufsgattung Anwalt fördern oder Freunde brüskieren will. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

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